Der Teppich fliegt

 

In Berlin regiert seit einem Jahr mit “schwarz-geld”, eine Koalition, die von den bundesdeutschen Wählerinnen und Wählern im September 2009 mit einer zwar knappen relativen Mehrheit der Stimmen, aufgrund der zahlreichen Überhangmandate aber doch ausreichend starken Mandatsmehrheit im Bundestag ausgestattet worden war.

 

In den aktuellen Umfragen ist vom Glanz dieser Mehrheit nicht mehr viel zu sehen: Trug die  FDP 2009 mit dem damaligen Sensationsergebnis von 14,6 % der Stimmen noch den Löwenanteil zum Regierungswechsel von Schwarz-rot zu schwarz-gelb bei, so wird sie heute von allen Umfrageinstituten bei 5 % und damit am bundesdeutschen parlamentarischen Existenzminimum verortet. Auch die CDU läge bei Bundestagswahlen mit rund 30 % noch einmal unter ihrem historisch schlechten Wahlergebnis von 2009 (33,8 %). Während die Linke stagniert und die SPD leichte Zugewinne verbuchen könnte, sind die Umfragewerte für Bündnis 90/Die Grünen explodiert und liegen bei den renommierten 5 Instituten über 20 Prozent, nach einem wahlergebnis von 10,7 Prozent im September 2009. Beim notorisch SPD-unfreundlichen FORSA-Institut liegen sie in den Umfragen sogar seit 4 Wochen in Folge vor der SPD.

 

Mit diesen Spitzenumfragewerten für den Bund korrespondieren vergleichbare Werte in den einzelnen Ländern. Im einst roten Berlin könnten die Bündnisgrünen mit 30 % als stärkste Partei alleine bestimmen, mit wem sie regieren wollen und im schwarzen Baden-Württemberg mit 32-34 % in einer grün-roten Regierung den Ministerpräsidenten stellen. Parallel zeigen die Umfragewerte die Bündnisgrünen auch im Osten deutlich über der 5%-Hürde (Brandenburg: 12%, Sachsen-Anhalt: 9%) und selbst in Rheinland-Pfalz, wo sie vor 5 Jahren noch aus dem Landtag flogen, werden sensationelle 16 % angezeigt.

 

Die Sympathie für Bündnis 90/Die Grünen ging nach den Wahlen 2009 zunächst nur leicht, aber stetig nach oben und machte dann im September 2010 einen deutlichen Sprung. Politisch korreliert dieser Sympathiegewinn mit der öffentlichen Diskussion über Stuttgart 21 und der Diskussion um die Verlängerung der Restlaufzeiten für die Atomkraftwerke in Deutschland. Drängt sich die Verbindung mit der Auseinandersetzung um die Atomkraftwerke unmittelbar auf, so erschließt sich bei Stuttgart 21 der bundesweite Aspekt nicht sofort.

 

Was war geschehen? Beim Projekt Stuttgart 21 ist der Umbau des bisherigen Stuttgarter Kopfbahnhofes in einen (unterirdischen) Durchgangsbahnhof nur das Tüpfelchen auf dem i eines Multimilliardenprojektes, dem monatlich neue Kostensteigerungen vorhergesagt werden. Zum Bau mehrerer Tunnel im geologisch problematischen Stuttgarter Stadtbereich kommt der Ausbau der Trasse  Stuttgart – Ulm als zumeist in Tunneln geführte Schnellbahnstrecke hinzu, von Kanzlerin Merkel als Zentralstück der “Europäischen Magistrale Paris-Bratislava” bezeichnet. War der  Abriß eines Seitenflügels des bisherigen Bahnhofsgebäudes zunächst nur der Auftakt für eine Reihe von Demonstrationen gegen das Projekt S 21 von eher badenwürttembergischer Bedeutung , so verstieg sich Kanzlerin Merkel nach dem ersten Anwachsen der Umfragewerte der  badenwürttembergischen Grünen zur allgemeinen Überraschung zu der Behauptung, dass an der Verwirklichung dieses Projektes sich die Frage der Zukunftsfähigkeit Deutschlands erweisen würde und dieses daher auf jeden Fall durchgesetzt werden müsse. Eine leere Drohung: Hatte man ja öfter schon Ähnliches von früheren Regierungen z.B.  in Zusammenhang mit dem Bau von Atomkraftwerken, der Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf oder überflüssigen Kanälen  gehört, ohne dass in der weiteren Folge  der Zusammenbruch der deutschen Industriegesellschaft zu verzeichnen war. Aber mit ihrer Folgerung, dass sie für die CDU die badenwürttembergische  Landtagswahl zum Plebiszit über dieses Projekt mache, schoss Frau Merkel sich ein gewaltiges Eigentor. Baden Württembergs Ministerpräsident Mappus nahm diesen Kanzlerinnenauftrag an und gab nach derzeitigen Erkenntnissen wohl persönlich den Anstoß für ein überzogen hartes “Durchgreifen” der Bereitschaftspolizei bei einer Schülerdemonstration gegen Stuttgart 21. Bilder von martialisch ausgerüsteten prügelnden Polizisten, Wasserwerfereinsatz gegen Kinder und Rentner, mehr als hundert verletzte Schüler, ein Mann, mit blutenden Augen, der dauerhaft auf einem Auge erblindet ist,  das waren die Bilder, die deutschlandweit diese Art von Durchsetzungspolitik ins “rechte Licht” rückten.

 

Mit diesen Bildern setzte sich nicht nur der Sinkflug der badenwürttembergischen CDU fort, zugleich begann auch der Absturz der dortigen SPD. Diese tritt zwar unverändert für Stuttgart 21 ein, forderte aber unter dem Eindruck der Bilder nun eine Volksabstimmung (mit den Worten des Landesvorsitzenden: “Um dem Projekt Flügel zu verleihen”). Während B90/Die Grünen sofort einen Untersuchungsausschuss zu dem Polizeieinsatz forderten, lavierte die SPD zunächst herum, bis sie im letzten Moment dann doch der Einsetzung des Untersuchungsausschusses zustimmte. Solcherart zwischen die Fronten geraten droht die Landes-SPD nun zwischen Grünen und CDU zerrieben zu werden. Den Grünen könnte bei den Wahlen im März 2011 aber nun erstmals der Posten des Ministerpräsidenten für ihren Spitzenkandidaten Winfried Kretschmann zufallen, der innerhalb der grünen Partei dem wertkonservativen Flügel zuzurechnen ist.

 

Ähnlich gut stehen die Bündnisgrünen in Berlin, wo sie ein Jahr vor der Wahl mit inzwischen deutlichem Abstand vor allen anderen als stärkste Partei gehandelt werden. Hier beflügelt von der Erwartung, dass sich die Berliner Bundestagsabgeordnete und Fraktionsvorsitzende Renate Künast als Spitzenkandidatin zur Verfügung stellt. Trotz massiven Drucks der Medien hat sie sich seit Wochen auf den 6.November als den Tag festgelegt, an dem sie ihre Entscheidung verkünden will. In Berlin regiert seit nunmehr 9 Jahren eine rot-rote Koalition unter dem SPD-Bürgermeister Wowereit, der im direkten Vergleich mit Renate Künast in Umfragen deutlich den Kürzeren zieht.

 

Im Gegensatz zur badenwürttembergischen SPD, die sich eine “Juniorpartnerschaft” in einer grün-roten Koalition durchaus vorstellen kann, um nach über 50 Jahren endlich die CDU aus der Regierung zu verdrängen, ist die Berliner SPD noch etwas eigen und lehnt allein die Vorstellung einer grünen Regierenden Bürgermeisterin strikt ab. Darin folgt sie der Bundes-SPD, die den Grünen dringend empfiehlt keinen eigenen Kanzlerkandidaten aufzustellen und seit einigen Wochen Die Grünen als ihren Hauptgegener ausgemacht zu haben scheint. So beklagt der SPD-Bundesvorsitzende Gabriel, dass die Grünen nicht die gesamte Bandbreite politischer Themen abdeckten, sondern nur eine “Wohlfühlpartei” seien, der die SPD unmöglich das Kanzleramt überlassen dürfte.

 

Bislang nimmt die gesamte bündnisgrüne Partei diese Umfrageergebnisse nicht zum Anlass abzuheben, sondern bleibt bewußt auf dem Teppich.Was aber macht man, “wenn der Teppich fliegt”, wie momentan die beliebteste grüne Metapher lautet.

 

Jedem grünen Funktionsträger ist klar, dass Umfragewerte keine Wahlergebnisse sind und man sehr schnell wieder unter 20 Prozent landen kann.  Auch wenn die Partei jetzt täglich rund 40 Neueintritte verzeichnet, so kann der aktuelle Hype nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Bündnisgrünen mit 51.000 Mitgliedern nur über ein Zehntel der Mitgliederbasis von SPD und CDU von jeweils  rund 500.000 Mitgliedern verfügen. Der Stärke in den Umfragen entspricht keine reale Stärke in den Gemeinden und Kreisen. So ist im Landesverband Brandenburg der Großteil der 800 Mitglieder im berlinnahen Raum beheimatet. In den strukturschwachen Randregionen repräsentieren mitunter nur 10 Grüne ihre Partei in einem Gebiet von der Größe des Saarlandes.  

 

Es ist auch nicht anzunehmen, dass der massiv gewachsene Zuspruch für Die Grünen allein auf ihre Programmatik zurückzuführen ist. Aktuelle Umfragen zeigen an, dass die WählerInnen den Bündnisgrünen eine besonders hohe Glaubwürdigkeit attestieren. Inzwischen kann sich die Hälfte der bundesdeutschen WählerInnen vorstellen bei den Grünen ihr Kreuz zu machen - auch wenn nicht zu erwarten ist, dass dieses Potential jemals ausgeschöpft werden kann, zeigt es zumindest, dass die Rolle des  Bürgerschrecks den Grünen nicht mehr zugeschrieben werden kann. Ganz im Gegenteil werden die Grünen trotz ihrer eher “linken” Programmatik aufgrund ihrer sozialen Zusammensetzung zunehmend als die eigentliche “bürgerliche” Partei wahrgenommen und bedrohen damit unmittelbar die Union und FDP in deren Selbstverständnis. Kein Wunder also, dass CSU-Chef Seehofer diese Woche in seiner Parteitagsrede schwerpunktmäßig Angriffe gegen die Grünen fuhr.

 

Das rechtlich nirgends vorgesehene Schlichtungsverfahren um Stuttgart 21, die Wiederbelebung der Anti-AKW-Bewegung wie auch die aktuelle Debatte um die Flugrouten des neuen Berliner Großflughafens Schönefeld zeigen das Bedürfnis der Bevölkerung nach einer Weiterentwicklung der  klassischen demokratischen Beteiligungsverfahren an. Der bisherige Ansatz einer “Legitimation durch Verfahren” reicht nicht mehr aus. Die Menschen sind eben nicht mehr bereit sich damit abspeisen zu lassen, dass Großvorhaben durch parlamentarische Mehrheiten bestimmt und nach Genehmigungsverfahren und Ausschöpfung des Rechtsweges auch durchgesetzt werden. Inzwischen gibt es erste Überlegungen im politischen Raum, Großprojekte grundsätzlich einem Referendum zu unterwerfen. In den hohen Sympathiewerten für Die Grünen drückt sich ein Stück weit auch die Erwartung aus, dass diese ihrem Anspruch nach einer umfassenden Partizipation der BürgerInnen auch gerecht werden.

 

Für Bündnis 90/Die Grünen kommt die erste Bewährungsprobe nach diesem demoskopischen Höhenflug auf der Bundesdelegiertenkonferenz (dem Bundesparteitag) vom 19.-21.November 2010 in Freiburg im Breisgau. Neben den wohl eher unkritischen Vorstandsneuwahlen und Beschlüssen zur Energie- und Klimapolitik steht die Gesundheitspolitik auf der Tagesordnung. Mit dem Modell einer BürgerInnenversicherung, der zukünftig alle Einwohner Deutschlands angehören sollen, sind finanzielle Mehrbelastungen insbesondere für die Menschen mit  Monatsbruttoeinkommen zwischen 3.700 und 5.000 € und für Alleinverdiener in klassischen “Hausfrauenehen” verbunden. Es bleibt abzuwarten, wie die neu gewonnene Sympathisantenschar auf diesen Beschluss reagieren wird. Siehe: http://www.gruene-partei.de/cms/default/dok/355/355833.zugang_teilhabe_praevention_gruene_gesun.htm

 

Unkritischer dürfte dagegen die Behandlung der aus der Basis eingereichten  Anträge zu einem prospektiven Abzug aus Afghanistan ausfallen,  da selbst die Anträge linker Grüner keinen Sofortabzug ins Auge fassen, sondern sich mit den Rahmenbedingungen befassen.

Mehr zu den Anträgen siehe : http://www.gruene-partei.de/cms/default/rubrik/18/18846.antraege.htm

 

Im März 2011 folgen dann die Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz. Danach wird man allseits klüger sein.

 

 

31.Oktober 2010, Axel Vogel, MdL, Potsdam