Die innere Struktur der EU

und ihre politische Tragfähigkeit im Licht der Integration

Last exit for EU

 

 

Die Institutionen der Europäischen Union stecken in einer umfassenden Krise. Zwischen den verschiedenen Ebenen – Gemeinschaftsinstitutionen, Nationalstaaten und den Bürgerinnen und Bürgern in Europa – zerreißt der politische Zusammenhalt. Auf mehreren politischen Feldern stehen Probleme an, die keine Lösung haben. Die zukünftigen Entwicklungslinien sind nicht vorgezeichnet, sondern sind von der hektischen Suche nach Auswegen aus dem je akuten Konflikt – Haushalt, Erweiterung oder Primärrecht - geprägt. Die großen europapolitischen Entwürfe fehlen in der Debatte. Sinn, Zweck und Ziel verschwimmen zunehmend. Der Stillstand bei zentralen Projekten wie der Einigung, der Verfassung, der Budgetpolitik und dem sozialen und wirtschaftlichen Ausgleich, droht zu einer Rückentwicklung zu führen. Auch der Zerfall des europäischen Einigungsprojektes unter dem Titel EU, das sich immer öfter als schlecht organisierter Vielvölkerbund darstellt, scheint nicht mehr gänzlich ausgeschlossen.

 

Im folgenden wird zunächst die Entwicklung der territorialen Ausdehnung der EWG bzw EU nachgezeichnet und dann die Frage der Reformen der Institutionen, die parallel stattgefunden haben, behandelt. Insbesondere die jüngsten Entwicklungen nach der Transformation 1989/90 wird genauer untersucht, da die inneren Strukturdefizite sich bei ständiger Vergrößerung des Systems aufhäuften und die jetzt konstatierte Krise hervorgebracht haben. Abschließende Schlussfolgerungen fassen die Mängel und Fragen, aber auch die Lösungsansätze, die sich inzwischen angesammelt haben, an Hand des aktuell vorgelegten Entwurfes über den Reformvertrag, noch einmal zusammen.

 

 

1)      Große Erweiterungsschritte ohne angemessenen Handlungsrahmen:

 

Nach dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes begann der Druck auf die Union zu wachsen, auch den damals noch jungen Demokratien in Osteuropa eine Chance auf die Vollmitgliedschaft in den Europäischen Gemeinschaften zu geben. Lief die erfolgreiche Einigung bis dahin in einem politisch mehr oder weniger geordneten Prozess ab, der den Klub nicht überforderte, entstand ab Mitte der 90er Jahre ein gehöriger Aufnahmedruck von außen.

 

 

Der Ausgangspunkt für die europäische Einigung wurde in der Montanunion und der deutsch-französischen Aussöhnung im Rahmen der Gründung der Europäischen Gemeinschaften durch die Unterzeichnerstaaten Deutschland, Frankreich, die Beneluxstaaten und Italien gefunden.

 

Es hat immerhin mehr als zwei Jahrzehnte gedauert, dass Großbritannien, Dänemark und Irland der EWG beitraten. Ausgelöst durch die am 1.Juli 1968 eingeführte Zollunion entstand ein Markt mit Anziehungskraft, der 1973 den Vollbeitritt dieser drei bis heute atlantisch orientierten Staaten nach sich gezogen hat. In Norwegen, das bei dieser Erweiterungsrunde auch dabei sein sollte, wurden die Verträge bei einer Volksabstimmung im September 1972 abgelehnt.

 

1981 folgte dann der Beitritt Griechenlands. Das Land, das bis 1974 eine Militärdiktatur war, kann als erstes gelungenes Beispiel einer Stabilisierung des Demokratisierungsprozesses durch den Beitritt zur EWG angesehen werden. Gleichzeitig wurde damit die Konkurrenz zur Türkei und der Zypernkonflikt in das Einigungsprojekt direkt einbezogen. 

 

Mit der Idee von Jacques Delors einen abgeschotteten Binnenmarkt in Europa einzuführen wurde der Druck auf Nachbarstaaten der EWG auch beizutreten erneut erhöht.

 

1986 fanden mit der Süderweiterungsrunde und der Aufnahme Portugals und Spaniens zwei weitere demokratisierte Diktaturen der Nachkriegszeit ihren Weg in die EWG. Gleichzeitig war damit die kritische Zone hinsichtlich des Wirtschaftswachstums im Süden mit Griechenland, Portugal und Spanien Gemeinschaftsgebiet geworden. Die Kosten dieser beiden Erweiterungsrunden von 1981 und 1986 waren bereits damals Thema für erste Verteilungsdiskussionen zwischen den Reicheren und den ärmeren Neuen.

 

Der demokratische Transformationsprozess in Osteuropa traf die EU wie ein unerwartetes Naturereignis. 1990 wurde die DDR durch die Einigung Deutschlands ohne Aufnahmeverfahren als Teil der Bundesrepublik EG-Gebiet. Die DDR kann als ein Vorläufer der Osterweiterung, die ja dann wesentlich längere Zeit beanspruchte, betrachtet werden.

 

Hier im mittleren Westen Europas war eigentlich ein kontinuierlicher und ausbalancierter Erweiterungstakt gefragt. Diesem Interesse folgend wurde nach fünfjährigen Beitrittsverhandlungen, Volksabstimmung und Ratifikation der EG-Verträge, 1995 die Gemeinschaft um Schweden, Finnland und Österreich erweitert.  Damit waren einmal die westeuropäischen Integrationsbestrebungen abgeschlossen und die politische Vorbereitung der großen Osterweiterungsrunde kam unter dem Titel Institutionenreform auf die Tagesordnung. Diese Aufgabe wurde mit dem Amsterdamer Vertrag gründlich verfehlt. Eine neuerliche Reform der europäischen Regeln in den Verträgen wurde notwendig.

 

Ziel der Regierungskonferenz von Nizza im Jahr 2001 war die Vorbereitung der Institutionen der Europäischen Gemeinschaften auf die Erweiterung, um deren Funktionieren unter den Bedingungen einer Union mit 27 Mitgliedstaaten sicher zu stellen. Dieses Ziel wurde klar verfehlt.  Undurchsichtige Verhandlungen in der Regierungskonferenz führten zu kaum verständlicher Verteilung der Stimmgewichtung im Rat und einem System der Entscheidungsfindung, das äußerst blockadeanfällig ist. Von besonderer Bedeutung war die Ausdehnung der Handlungsspielräume durch den Übergang zu Mehrheitsentscheidungen und zur Gemeinschaftsmethode für neue Politikbereiche. Auch das ist misslungen.  Herausgekommen ist mit der erneuerten „verstärkten Zusammenarbeit“ für die Bereiche Sicherheitspolitik und Justiz die Wurzel zur Bildung eines militärischen Kerneuropa und das Fundament für die Festung Europa.

 

Die erste große Osterweiterungsrunde konnte erst am 1.Mai 2004 abgeschlossen werden.  Unter großem Druck der USA, die die Nato rasch als sicherheitspolitischen Transmissionsriemen den neuen jungen Demokratien in Osteuropa angeboten hatte, musste die Europäische Union rasch nachziehen. Von der Anziehung neuer Mitgliedstaaten durch die EU war nicht mehr die Rede. Vielmehr von historisch notwendigen Schritten. Die neuen und jungen demokratisch gewählten Regierungen betrachteten die Aufnahme als eine Selbstverständlichkeit. In den alten Mitgliedstaaten war die Euphorie über die demokratischen Umbrüche in Osteuropa verflogen und der Beitritt der neuen bevölkerungsreichen und armen Staaten wurde zum Spielball nationalistischer Propaganda und rechtspopulistischer Parteien.

 

Die meisten der neuen Demokratien – mit Ausnahme der Slowakei unter Mecir und Sloweniens - entwickelten eine Wirtschaftspolitik, die unter dem ideologischen Einfluss US-amerikanischer Neoliberaler stand. Verschiedenste neoliberale Experimente wurden in diesen Volkswirtschaften ausprobiert, zunächst die alten sozialen Versorgungssysteme zerschlagen, Industrie und Landwirtschaft privatisiert . Ob die Ausgabe von Volksaktien in Tschechien des Vaclav Klaus oder die Hartwährungspolitik der ungarischen Regierungen von Horn über Antal bis Orban.  Am Ende stand überall die Öffnung des Marktes für Waren und Investitionen, eine äußerst schwierige Situation in der Landwirtschaft und die Abwanderung von Arbeitskräften. Überdies verschärfte diese Wirtschaftspolitik den Standortwettbewerb in Europa und verankerte auch divergierende Politikkonzepte. In vielen osteuropäischen Ländern wie Polen, Ungarn,  Tschechien, den baltischen Staaten und Rumänien ein stark US-orientiertes Modell. In einigen wie Slowenien oder Slowakei ein auf Eigenstaatlichkeit und Souveränität orientiertes auch auf Wohlfahrtssysteme gestütztes Modell.

Der Integrationsprozess a´ la Brüssel hat die zentrifugalen Tendenzen zusätzlich verstärkt. „Die schnelle Ausdehnung des Binnenmarkts (insb die nach den Interessen der bisherigen Mitgliedstaaten gestaltete Handelsliberalisierung), die als Konkurrenzkampf gestaltete Vorbeitrittsphase und die wettbewerbsstaatliche Ausrichtung der osteuropäischen Verwaltung haben die Chance auf eine schnelle nachholende Wirtschaftsentwicklung, verbunden mit sozialem Fortschritt, stark reduiziert.“ (Oberndorfer, L. 2007, S. 32 f.)

Überdies geschahen in der Beitrittsrunde auch kapitale politische Betriebsunfälle wie der Beitritt Lettlands ohne Lösung für die dort lebende russischsprachige Bevölkerung oder der Beitritt der Republik Zyperns ohne Lösung des Nordzypernproblems.

Insgesamt hat 2004 die Europäische Union erweitert, integriert hat sie nicht hinreichend.

 

 

Mit der Erweiterung um Rumänien und Bulgarien Anfang des Jahres 2007 hat sich auch das Konzept der Vollmitgliedschaft angreifbar gezeigt. Die vielen Einlassungen und Klauseln, bis die beiden Nachzügler der Einigung um mittel- und osteuropäische Staaten „richtig“ aufgenommen werden konnten, sind deutliches Warnsignal für eine riskante desintegrative Entwicklungsbewegung. Nichtsdestotrotz: Die EU wächst damit von 461 auf 490 Millionen Menschen und von 3,9 auf 4,3 Mio Quadratkilometer an. 

 

Die viel zitierten Schutzklauseln nach den Artikeln 38 und 39 der Beitrittsakte, die sich auf das Justizwesen beziehen, erlauben es zwar, bei "ernsten Mängeln" die Zusammenarbeit im Justizbereich und die Finanzflüsse im Agrarbereich auszusetzen. Aber die politischen Entwicklungen deuten keineswegs auf einen Normalisierungsprozess hin, der rechtsstaatliche und demokratische Standards etabliert.

 

Vielmehr geriet in Bulgarien die Justizreform des Zivilrechts und die Korruptionsbekämpfung seit dem Beitritt ins Stocken. „Transparency International“ schätzt, dass jeder Bulgare rund 80 Euro Schmiergeld im Jahr bezahlt, die sofort nach dem Beitrittsbeschluss im Frühjahr 2006 akut wurde. In Rumänien wurde die reformfreudige Justizministerin und Korruptionsbekämpferin Monica Macovei Opfer der anhaltenden Regierungskrise.

 

Die Beitritte Bulgariens und Rumäniens haben die politische Eigendynamik des Beitrittsprozesses spätestens ab dem Augenblick des Abschlusses der Beitrittsverhandlungen im Jahr 2004 deutlich unterstrichen.  Eigentlich konnte von der Kommission gegenüber den beiden Beitrittswerbern nach dem Beschluss der Regierungschefs im Frühling 2006 Nichts mehr durchgesetzt werden.


Der Versuch die Aufnahmefähigkeit der Union selbst zu einem Beitrittskriterium für Neubewerber der Union zu machen hat seinen Elchtest im Rahmen der Verhandlungen mit der Türkei. Ob dieser den politischen Aktionsradius der Union und des Rates gegenüber dem Beitrittswerber erhöht darf bezweifelt werden. Zu stark sind die wirtschaftlichen Interessen den Markt zu erweitern. Zu schwach die politischen Kräfte die Verwerfungen dieser Markterweiterung auch politisch zu gestalten.

 

 

 

Mit den Beitrittskandidaten Kroatien, Türkei und Mazedonien ist ein weiterer Wachstumsschub der Union vorgezeichnet, dem ein qualitativer Entwicklungsschub in Haushalts- und Institutionenpolitik unbedingt vorausgehen müsste, wenn er denn gelingen soll.

 

Gleichzeitig werden die vier weiteren südosteuropäischen Länder – nämlich Serbien/Kosovo, Montenegro, Bosnien-Herzegowina und Albanien – auf  die Beitrittsagenda drängen. Besonders groß wird die Begeisterung nach den negativen Erfahrungen mit Bulgarien und Rumänien unter den angestammten Vollmitgliedern des Europa-Clubs nicht sein. Aus friedenspolitischen Gründen führt allerdings kein Weg an diesem Integrationsschritt vorbei. Die südosteuropäische Vier wird sich bemühen,  sollten die Beitrittsverhandlungen tatsächlich aufgenommen werden, die Türkei im Beitrittsdatum noch zu überholen.

 

Im übrigen muss der Wille der ukrainischen politischen Eliten, Aufnahme in der EU zu finden, zur Kenntnis genommen werden. Denn nicht nur Polen hat sich als Makler für die Ukraine engagiert, auch die Vertragsbestimmung (Art. 49 EUV), dass alle europäischen Staaten einen Beitrittsantrag stellen können, spricht für eine Entwicklung in diese Richtung. Im Zuge dessen rückt auch eine Beitrittsdebatte rund um Moldawien und eventuell sogar Weißrussland – sollte  sich dort eine politische Veränderung ergeben – in den Bereich des Möglichen.

 

All diese Erweiterungsschritte sind ohne große politische Reform nicht mehr denkbar. Die Konzepte reichen vom Fortsetzen des bisherigen politischen Weges inklusive Erweiterungen bis zum Abbruch des territorialen Erweiterungsprojektes.

 

 

2)      Stockende Institutionenreform aufgrund doppelter Erweiterung um Staaten und  Kompetenzen:

 

Entgegen dem kontinentaleuropäischen Gründungsmythos, der die Gründung der EWG Monnet, Schumann und Adenauer zuschreibt, ist festzuhalten, dass die USA nach dem 2. Weltkrieg an der Rekonstruktion und Stabilisierung des europäischen Kapitalismus in Form eines „größeren Marktes“ (Krippendorff 1982:158) unter Führung des US-amerikanischen Kapitals (das scheinbar einen uneinholbaren Vorsprung besaß) nicht zuletzt durch die Mittel des Marshallplanes aktiv mitwirkten.

 

Der Grundgedanke der Wirtschaftskooperation als Grundlage der Aussöhnung findet sich bereits in der Präambel des EWG-Gründungsvertrags von 1957 als Ziel formuliert: „durch diesen Zusammenschluss ihrer Wirtschaftskräfte Frieden und Freiheit zu wahren und zu festigen, und mit der Aufforderung an die anderen Völker, die sich zu dem gleichen hohen Ziel bekennen, sich diesen Bestrebungen anzuschließen“ (Stix-Hackl/Dossi 2001:33). Mit der deutsch-französischen Aussöhnung hat der Begriff vom europäischen Friedensprojekt sein Versprechen noch nicht eingelöst. Dies stellt auch eine Aufgabe für die Zukunft dar. Die Idee der Ausweitung einer „Pax Europea“ steht aktuell auf dem Prüfstand. In Bezug auf die Beteiligung am US-Krieg gegen Terror, aber auch im Verhältnis zu den neuen Mitgliedstaaten,  im Verhältnis zu Russland genauso, wie hinsichtlich der Entwicklungen in Südosteuropa, im Verhältnis zur Türkei genauso wie in jenem zum Islam.

 

 

Jean Monnet, Planungskommissar des damaligen französischen Außenministers  Schuman legte am 9.Mai 1950 ein Projekt zur Zusammenarbeit der deutschen mit der französischen Stahlproduktion unter einer gemeinsamen Behörde vor. Von der Einsicht getragen, dass eine zentrale Ursache der beiden Weltkriege des vergangenen Jahrhunderts, die Konkurrenz Deutschlands und Frankreichs in diesem Wirtschaftssektor war (Krippendorff 1977), wurde im April 1951 die Europäische Gemeinschaft Kohle und Stahl gegründet, die im Juli 1952 ihre Arbeit aufnahm. Von Versorgungssicherheit über eine durch Zinsausschüttung gelenkte Preispolitik, durch die Vermeidung von Raubbau, durch Zollfreiheit und Ausschluss von Diskriminierungen innerhalb seiner Mitglieder standen im Zentrum der Vereinbarungen dieses Vertrages.

 

1955 wurde auf der Konferenz von Messina die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und die Europäische Atomgemeinschaft von den Außenministern der sechs Gründungsstaaten ins Auge gefasst.

 

Am 1.Jänner 1958 traten die beiden Verträge bereits in Kraft. Im EWG-Vertrag wurde der gemeinsame Markt, zur „schrittweisen Annäherung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten eine harmonische Entwicklung des Wirtschaftslebens innerhalb der Gemeinschaft“ als Ziel in Art. 2 zu Grunde gelegt. Zunächst entwickelte man hierfür gemeinsame Felder der Zusammenarbeit:

- die Schaffung einer Zollunion;

- freier Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Warenverkehr;

- gemeinsame Wirtschafts-, Wettbewerbs-, und Währungspolitik

- und eine gemeinsame Landwirtschafts- und Verkehrspolitik, wobei hier vor allem durch Verteilung von Förderungen in die nationalen Politiken eingegriffen wurde.

Ursprünglich war für diese Politikfelder an eine kooperative Zusammenführung mit dem Ziel der Angleichung des Rechts in diesen Bereichen gedacht.

 

Der Euratomvertrag hat sich demgegenüber „die schnelle Bildung und Entwicklung von Kernindustrien zur Hebung der Lebenshaltung“ (Art.1) als Ziel gesetzt[1]. Im Wesentlichen sollte dies durch die Förderung der Nuklearforschung und durch die Bildung eines gemeinsamen Marktes in diesem Bereich erfolgen. Unter Leugnung der speziellen Gefahren der Kernenergieproduktion wurde wider besseren Wissens die zivile Nutzung der Kernenergie als von der militärischen Nutzung getrennt betrachtet und ins Europäische Gründungswerk implementiert.

 

Neben der territorialen Ausdehnung erfuhr die EU eine Kompetenzerweiterung, die das Integrationsgeflecht einigermaßen erstreckte und komplizierte. Neben der Kohle- und Stahlunion, Euratom und der Zollunion hat 1985  Jacques Delors in seinem Weißbuch zur Schaffung des Binnenmarktes 300 wirtschaftspolitische Maßnahmen vorgeschlagen. Der Maastrichtvertrag,  brachte vor allem die Wirtschafts- und Währungsunion ins Spiel. Der Zweck des europäischen Projektes wurde von der Bildung des Gemeinsamen Marktes durch Annäherung der nationalen Wirtschaftspolitik weiter vorangetrieben in Richtung Verschmelzung bestimmter Politikbereiche sogenannter gemeinsamer Politiken. Der Maastrichtvertrag brachte auch eine weitere Ausdehnung der Tätigkeitsfelder auf Sozialpolitik, Forschungs- und Technologiepolitik sowie Umweltpolitik, die im Vertrag von Maastricht den EU-Vertrag rechtlich verankert wurde. Zur gleichen Zeit wurden die Ansätze zu innerer Sicherheit und zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik gelegt.

 

Die Fülle an Verfahren für diese Kompetenzerstreckung belasteten die sich nun stetig auch territorial erweiternde Union immer stärker. Es ist eben nicht leicht eine Erweiterung der Aufgabenbereiche, die eine Multiplikation der Tagesordnungen in mehr Gremien nach sich zieht, mit mehr Mitgliedern am Tisch zu behandeln und zu entscheiden. Arbeitsumfang und Entscheidungsprobleme potenzierten sich.

 

Hinzu kommt ein wesentliches Demokratiedefizit vom Ursprung des Einigungsprozesses an. Die kommissarische Ordnung (Puntscher-Riekmann) mit ihren einigen hundert Arbeitsgruppen aus Beamten zur Abstimmung von Politiken und Rechtsmaterien zusammengsetzt, ist eben dem Lobbyismus und industriellen Gruppen und Konzernen wesentlich stärker ausgeliefert als irgendwelchen demokratischen Meinungsbildungsprozessen. Parlamentarische Kontrolle fand in den ersten Jahrzehnten ihres Bestandes kaum statt. Erst im Jahr 1986 wurde aus der parlamentarischen Versammlung das Europäische Parlament, dem allerdings bis heute die Rechte eines Vollparlamentes wie das Initiativrecht, das Kontrollrecht und das Budgetrecht von den Regierungschefs vorenthalten werden.

 

 

 

a)      Währungsunion als neoliberales Grundprinzip der Union:

 

Nach Bildung der Zollunion 1968, die einen Warenmarkt schuf, und der Errichtung eines Binnenmarktes auch für Personen, Dienstleistungen und Kapital im Jahr 1993 wurde die Anziehungskraft des Europäischen Projektes wesentlich verstärkt. Wer nicht dabei war, drohte vom großen Markt, aber auch vom großen Verhandlungsspiel der Räte ausgeschlossen zu bleiben. Die Integration des westeuropäischen Raumes wurde auf diese Weise abgeschlossen.

 

Der Maastrichtvertrag verankerte einen weiteren großen wirtschaftspolitischen Integrationsschritt, der mit den Begriffen Währungs- und Wirtschaftsunion verbunden war. Mit der rechtsverbindliche Verankerung der Stabilitätskriterien, auch Maastrichtkriterien genannt, legten sich EU-Kommission und die Finanzminister der Mitgliedstaaten kurze wirtschaftspolitische Zügel an: Hartwährungspolitik und niedrige Inflationsraten, Nulldefizit und Senkung der Staatsausgaben[2] schufen geringe Handlungsspielräume für je nationale Konjunkturpolitik und wurden zur Grundlage der Bildung einer Währungsunion bzw. der im Jahr 2002 erfolgten Einführung des Euro auch als Zahlgeld.

 

Auch für diese Maastrichtkriterien scheinen historische Erfahrungen, nämlich in diesem Fall die der Weltwirtschaftskrise mit Inflation, Arbeitslosigkeit und nationaler Wirtschaftskonkurrenz aus der Zwischenkriegszeit Pate gestanden zu haben. Diese hatten sich auf eigenartige Weise mit der Schule des Neoliberalismus getroffen, die nach Zusammenbruch der sozialistisch verfassten osteuropäischen Staaten eine Renaissance erlebten. Der Triumph des Kapitalismus wurde zu einer alleinseligmachenden Ideologie der Freiheit des Marktes und des Kapitals überall in der Welt aufgebauscht.

 

b)      Sicherheitspolitik ohne außenpolitische Kompetenz

 

Im Bereich der militärischen Sicherheitspolitik setzte der Vertrag von Maastricht ein neues Ziel, dessen Stossrichtung jedoch auch nicht unbedingt eindeutig einzuordnen ist. Art. 16 auf Basis der Beschlüsse  von Maastricht: „(1) Die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik umfasst sämtliche Fragen, welche die Sicherheit der Europäischen Union betreffen, wozu auf längere Sicht auch die Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik gehört, die zu gegebener Zeit zu einer gemeinsamen Verteidigung führen könnte.“ (Stix-Hackl 2005)

 

Während Verteidigungspolitik alle militärischen Operationen erfasst ist mit „gemeinsamer Verteidigung“ die Schaffung eines defensiven Bündnisses angesprochen. Dieser schillernde Charakter der Gründungsnorm lässt die europäische Sicherheitspolitik in stille Konkurrenz mit der Nato treten, die ihr System auch immer als Defensivsystem rechtfertigte, gleichzeitig jedoch mächtig an Interventionskräften baute. Eineinhalb Jahrzehnte später lässt sich feststellen: „Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik kann und soll die Nato nicht ersetzen, sondern sie ergänzen. Die Atlantische Allianz bleibt das Fundament der kollektiven Verteidigung.“ (Lenz/Borchhardt, S.81) Gleichzeitig wird einer eigenständigen europäischen Außenpolitik keinerlei Bedeutung beigemessen, womit von einer Fortsetzung der US-orientierten strategischen Ausrichtung Europas ausgegangen werden muss.

 

Das noch wesentlichere Moment, das an dieser Stelle hervorzustreichen ist besteht darin, dass die Außenpolitik gleichsam in einem Aufwaschen mit der Sicherheitspolitik abgehandelt wird und somit eine stark militärische Akzentuierung erfährt.

 

 

 

a)      Institutionelle Fragen Stimmgewichtung, Kommission

 

Der Vertrag von Amsterdam aus dem Jahr 1997 justierte Maastricht nach und erweiterte  den Kompetenzkatalog erneut und versuchte aufgerissene Definitions- und Verfahrensdefizite aus Maastricht mehr schlecht als recht zu beheben: So wird bspw. ein Passus für „einen hohen Grad an Wettbewerbsfähigkeit und Konvergenz der Wirtschaftsleistungen (Art 2) und zu „Koordinierung der Beschäftigungspolitik“ (Art. 3) eingefügt.  Damit ist die Soziale Kompetenz des Einigungsprojektes neuerlich auf die Wettbewerbsfähigkeit hin zugespitzt worden. Die Gegensätze und Widerstände im EU-Projekt wurden einmal mehr auf die Frage des Europas der Konzerne und nicht der Menschen ausgerichtet

 

b)      Petersberg als militärisches Interventionsinstrument

 

Auch in der Außen- und Sicherheitspolitik wird die rote Linie eines transnationalen, semidemokratisch entwickelten Projektes wie es die EWG eben immer noch war, deutlich überschritten.

„Art 17 (2) Die Fragen, auf die in diesem Artikel Bezug genommen wird, schließen humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, friedenserhaltende Aufgaben sowie Kampfeinsätze zur Krisenbewältigung einschließlich friedensschaffender Maßnahmen ein.“

 

Nur wenige Jahre nach Maastricht wird also der sicherheitspolitische Zweck der EU aggressiv und interventionistisch unterstrichen, anstatt dass eine defensive auf Selbständigkeit ausgerichtete Richtung eingeschlagen worden wäre.

 

Außenpolitik bleibt im Übrigen weiterhin in Einem mit der militärischen Sicherheitspolitik abgehandelt.

 

 

 

Problematische Verfahren des Regierungseuropa belasteten die anwachsenden Gremien stetig. So gibt es beispielsweise ein unterschiedliches Stimmgewicht im Rat der Regierungsvertreter je nach Einwohnerzahl des Landes. Wobei die Verteilung nicht arithmetisch errechnet, sondern politisch gewachsen ist. In der am Gemeinschaftseuropa orientierten Kommission war demgegenüber aus jedem Mitgliedsland ein Kommissar vertreten. Dieser Entscheidungsmechanismus erzeugte jedenfalls bereits damals Tauschgeschäfte nach je nationalen Interessen, die gar nicht selten die Gegensätze der nationalen Interessen verstärkten. Nicht selten wird bei den Entscheidungsverfahren von einem nationalen Interessensbazar gesprochen.

 

In der folgenden tabellarischen Darstellung wird in der linken Kolumne der jeweiligen Spalte das Stimmgewicht bzw. die Abgeordnetenanzahl auf Basis des Maastricht-Vertrages und in der rechten jene des Vertrages von Nizza aufgelistet.

 

 

 

 

 

 

 

Stimmgewichtung im Europäischen Rat, Sitzverteilung im Europäischen Parlament – vor und nach dem Vertrag von Nizza[3]:

 

Mitgliedstaaten Beitrittskandidaten

Rat bis + ab

1. 11. 2004

Parlament bis und ab 2009[4]

EinwohnerInnen

In Mio.

Deutschland

10         29

99          96

81,1,

Vereinigtes Königreich

10         29

78          73

58,1

Frankreich

10         29

78           73

57,3

Italien

10         29

78           73

58,1

Spanien

8         27

54           54

39,1

Polen

27

54           51

38,7

Rumänien

14

35           33

21

Niederlande

5         13

27           26

15,3

Griechenland

5         12

24           22

10,3

Tschechische Republik

12

24           22

10,3

Belgien

5         12

24          22

10,1

Ungarn

12

24           22

10,1

Portugal

5         12

24           22

9,8

Schweden

4         10

19           20

8,8

Bulgarien

10

18

7,7

Österreich

4         10

18            19

8,0

Slowakei

7

14            13

5,3

Dänemark

3            7

14            13

5,1

Finnland

3            7

14            13

5,1

Irland

3            7

13            12

3,5

Litauen

7

13            12

3,7

Lettland

4

9

2,4

Slowenien

4

7                8

2,0

Estland

4

6

1,5

Zypern

4

6

0,8

Luxemburg

2            4

6            

0,4

Malta

3

5                6

0,4

Gesamt

87        321

785        750

370   ca 490

 

 

Dabei zeigt sich, dass die Stimmgewichtung im Rat vom Prinzip „One man – one vote“ weit entfernt ist. Insbesondere die Bundesrepublik Deutschland war in  diesem Zusammenhang benachteiligt. Auch im Europäischen Parlament war der Nachvollzug der Deutschen Einheit durch eine entsprechende Vermehrung der VertreterInnen in Maastricht noch nicht aufgenommen. 

 

Durch den  Vertrag von Nizza im Jahr 2001 verschoben sich die Ungleichgewichte zB auf die Stimmgewichtung zwischen Deutschland, Polen und Spanien.  Sowohl Polen als auch Spanien haben ihre hohe Bewertung mit Vetodrohungen erkauft. Deutschland versuchte demgegenüber seine hohen Beiträge zum Budget ins Treffen zu führen, zeigte sich jedoch zugunsten des Gesamtprojektes letztendlich kulant.

 

Amsterdamer Vertrag und die Verträge von Maastricht und Nizza haben also eine Menge Probleme für die nun bevorstehenden Erweiterungsrunden offen gelassen. Von der Stimmgewichtung der Regierungsvertreter im Rat bis zu den Entscheidungsverfahren für die neuen politischen Arbeitsfelder blieben Fragen unzureichend beantwortet. Der Druck auf die nun 2001 folgende Regierungskonferenz von Nizza war entsprechend groß. Ein Regelwerk, mit dem die erweiterten Politikfelder mit 27 und mehr Mitgliedstaaten entschieden werden können, war auf Basis der bereits damals überholten Mechanismen nicht leicht zu finden. Letztlich scheiterte die Konferenz von Nizza auch an den aufbrechenden Widersprüchen der als Beobachter beteiligten neuen Mitgliedstaaten, die sich ihren Beitritt bereits mit Stimmgewichten im Rat und Ähnlichem abkaufen ließen.

 

Heraus kam dabei, dass die sogenannten "Überbleibsel" von Amsterdam (Stimmgewichtung im Rat, Ausdehnung der Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit und die Zusammensetzung der EU-Kommission) völlig unbefriedigend behandelt wurden. Die Arbeitsweise der Union wurde damit noch komplizierter und ihr Demokratiedefizit ebenfalls vergrößert.

 

Der Vertrag von Nizza sieht vor, dass jeder Mitgliedstaat ab dem Jahr  2005 nur noch ein Kommissionsmitglied stellt. Mit dem Beitritt des 27. Mitgliedstaats soll den Beschlüssen von Nizza zu Folge die Zahl der Kommissare begrenzt werden. Die genaue Mitgliederzahl soll dann vom Rat einstimmig festgesetzt .

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Zusammensetzung der EU-Kommission vor und nach dem Vertrag von Nizza ab 1.1.2007:

 

Mitgliedstaaten Beitrittskandidaten

Kommission bis + ab 1.11.2004[5]

EinwohnerInnen

In Mio.

Deutschland

2               1

81,1,

Vereinigtes Königreich

2               1

58,1

Frankreich

2               1

57,3

Italien

2               1

58,1

Spanien

1               1

39,1

Polen

1

38,7

Rumänien

1

21

Niederlande

1               1

15,3

Griechenland

1               1

10,3

Tschechische Republik

1

10,3

Belgien

1               1

10,1

Ungarn

1

10,1

Portugal

1               1

9,8

Schweden

1               1

8,8

Österreich

1               1

8,0

Bulgarien

1

7,7

Slowakei

1

5,3

Dänemark

1               1

5,1

Finnland

1               1

5,1

Irland

1               1

3,5

Litauen

1

3,7

Lettland

1

2,4

Slowenien

1

2,0

Estland

1

1,5

Zypern

1

0,8

Luxemburg

1               1

0,4

Malta

1

0,4

Gesamt

20             25

370   ca 490

 

Der Begriff des Scheiterns von Nizza wird vor allem auf die Verteilung der Stimmgewichte auf die Regierungsvertreter im Rat bezogen. So hat Polen und Spanien mit 1/3 der EinwohnerInnen nur zehn Prozent geringere Stimmgewichte als  Deutschland. Aber auch die gleichen Stimmgewichte von Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Italien bei einem Bevölkerungsschlüssel von 4:3 erscheint wenig nachvollziehbar.

 

Aufgrund des Vorrangs der nationalen Interessen in der Regierungskonferenz haben die Mitgliedstaaten keine Wahl getroffen zwischen den beiden Optionen, die ihnen vorlagen, zwischen einer Revidierung der Stimmgewichtung und der doppelten Mehrheit (Mitgliedstaaten und Bevölkerung). Der Europäische Rat, der zu einer Einigung außerstande war, hat sich zu einer Mischung aus beidem entschlossen. Dies bedeutet, dass bei einer Entscheidung drei Kriterien berücksichtigt werden müssen:

·    Stimmgewichtung,

·    Mehrheit der Staaten

·    und der tatsächlichen Bevölkerung.

Dieses neue System wäre nicht nur komplizierter als das bisherige, sondern würde auch Entscheidungen noch leichter blockieren.

 

Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit wurden nur sehr beschränkt ausgedehnt. Die meisten wichtigen Bereiche, in denen die Union Kompetenzen hat, wie z.b. die Strukturfonds, Steuerharmonisierung, soziale Sicherheit, Kultur, Zuwanderung and Asyl werden immer noch einstimmig vom Rat beschlossen ohne verbindliche Mitwirkungsrechte des Europaparlaments. Mit 27 Mitgliedstaaten wirft die Einstimmigkeit als Fundament der Verfahren die Union auf die Handlungsmöglichkeiten einer Internationalen Organisation zurück ohne die Kompetenzen wirklich aus der Hand zu geben oder sie zurück an die Nationalstaaten zu geben. Europäisierung kommt so einem Abdanken der Politik in der Zwischenwelt von Nationalstaat und den Organen der Europäischen Union nahe.

 

·    Der Verfassungskonvent die Basis für den neuen Vertrag:

Aus diesem Dilemma wurde eine positive Konsequenz in Nizza gezogen. Es wurde mit einer Erklärung zur Zukunft der Europäischen Union der Startschuss für die Verfassungsdebatte gegeben. [6] Im Gefolge dessen wurde in der Tagung des Europäischen Rates von Laeken der öffentlich über zwei Jahre tagende Verfassungskonvent aus der Taufe gehoben, der mehrheitlich von gewählten ParlamentarierInnen beschickt wurde und der die Grundlage für eine Integration der komplizierten Verträge in der Union schuf. Dieser Entwurf wurde in einer Regierungskonferenz zwar erneut verwässert, aber seine Substanz konnte nicht mehr ausgehöhlt werden. Die Merkwürdigkeit, dass das Primärrecht von Regierungskonferenzen beschlossen wird, konnte auch der Verfassungskonvent nicht überwinden. Zur zentralen Methode der Entscheidungsfindung sollte hinkünftig die sogenannte qualifizierte Mehrheit werden. Eine Entscheidungsfindung die allen Europäschen Rechtsakten zu Grunde gelegt ist und die nicht auf die Zustimmung jedes einzelnen Regierungsvertreters im Rat angewiesen ist.

 

Das Verfahren der Stimmgewichtung für all jene Bereiche, die mit qualifizierter Mehrheit bearbeitet werden, soll also von einem einfacheren System abgelöst werden.

 

Qualifizierte Mehrheit nach Nizza, dem Konvent und dem jetzt gültigen Ergebnis:

 

 

Derzeit

Konvent-

vorschlag

Verfassungsvertrag = Reformvertrag

 

 

Definition der

Qual. Mehrheit

 

Mehrheit der Mitgliedstaaten + 72,27 % gewichteter Stimmen im Rat

 

 

Mh. d Mitglied-staaten = dzt. 14

+ 3/5 der Bev. = 60 %

 

15 Mitgliedstaaten und 65 % der StaatsbürgerInnen

und Beitrittskandidaten

 

Art. I-25 (1) EVV: „Als qM gilt eine Mehrheit von mindestens 55 % der Mitglieder des Rates, gebildet aus mindestens 15 Mitgliedern, sofern die von diesen vertretenen MS zusammen mindestens 65 % der Bevölkerung ausmacht“

 

Die doppelte Mehrheit aus der Mehrheit der Mitgliedstaaten und 3/5 der Bevölkerung wie sie der Konvent vorschlug und die der Bevölkerung mehr Gewicht als den Staaten verliehen hätte, ging also in der Regierungskonferenz unter. Aber die Idee das unsinnige Stimmgewichtungsmodells abzuschaffen, wurde aufgegriffen. Sie wäre damit nach einer Übergangsregelung bis Anfang 2009 von einem nachvollziehbareren Modell abgelöst worden. Die Latte für Entscheidungen für die qualifizierte Mehrheit wurde sowohl hinsichtlich der Staaten als auch der Bevölkerung um jeweils rund 8 Prozentpunkte höher gelegt. Es handelt sich also um eine doppelte Mehrheit der Staaten und der Menschen.

 

Im Europäischen Parlament wird die Zahl der Abgeordneten im neuen Verfassungsvertrag mit 750 begrenzt. Wobei die Mindestzahl von 6 Abgeordneten für die kleinsten Länder bzw. von 96 für die Größten festgelegt wurde.

In der Kommission wird das Prinzip ein Kommissar pro Staat durchbrochen. Ab 2014 sollen nur noch 2/3 der Mitglieder eineN KommissarIn entsenden. Die Gleichbehandlung aller Mitgliedstaaten wird durch ein Rotationssystem gewährleistet.

 

Der Verfassungsvertrag verändert also die Entscheidungsverfahren weg von den technokratischen Kanälen nationaler Regierungsvereinbarungen hin zu einer Aufwertung des parlamentarischen Prinzips, der Repräsentation jedeR BürgerIn und der gemeinschaftlichen Exekutive der Kommission. Mit dem Schutz der Grundrechte durch die Charta und dem Beitritt zur EMRK werden auch die Schutzrechte für die einzelneN BürgerIn auf das Niveau einer normalen Demokratie gebracht.

 

Das Manko des Verfassungsvertrages liegt in der weiteren Ausdehnung der EU-weiten Kompetenzen. Die Zuständigkeiten in Art. 13 – 18 des 1.Teiles des Verfassungsvertrages werden in „ausschließliche, geteilte und unterstützende“ Zuständigkeiten einerseits sowie in die „Koordinierung der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik“ und die „Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik“ andererseits aufgelistet. So wertvoll dieser Überblick ist, so verwirrend wird das Anliegen einer Strukturierung, sobald der 3.Teil der Textes, in dem die Entscheidungsverfahren für die einzelnen Kompetenzfelder ausgeführt werden, einbezogen wird. 

 

So gibt es bei den geteilten Zuständigkeiten das Kapitel Steuerharmonisierung, das nur einstimmig beschlossen werden kann, während die gemeinsame Wirtschafts- und Währungspolitik mit qualifizierter Mehrheit entschieden wird. Die Binnenmarktbestimmungen, Zollunion und Kapitalverkehr sind ebenfalls eine geteilte Kompetenz. Und sie werden im Vertrag qualifizierten Mehrheitsentscheidung anheim gestellt und offenbar  als weitgehend abgeschlossen angesehen. So werden sie vor allem der Auslegung des EuGH überantwortet. Das Beihilfewesen bleibt demgegenüber der Einstimmigkeit und damit  der möglichen Blockade jedes einzelnen Mitgliedstaates ausgesetzt. Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik wird demgegenüber wiederum der Offenen Koordinierung der Regierungen überantwortet. Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik wiederum bleibt der Einstimmigkeit unterworfen.

 

Erklärt werden kann dieses einigermaßen undurchsichtige Spiel aus Kompetenzen und Verfahrensweisen nur damit, dass der Teil 1 der Verfassung noch im Konvent zu Ende ausgearbeitet wurde und der Teil drei dann in einer dreimonatigen Regierungskonferenz aus den bisherigen Verträgen zusammengenagelt wurde.

 

Wenngleich in der Verfassung eine Auflösung der Säulenstruktur angestrebt wurde, bleibt die Tendenz einer allumfassenden Zuständigkeit und der weiteren schrittweisen Besetzung aller möglicher Politikfelder durch die Union der herrschende Trend. Es gibt also Nichts, wo die europäische Ebene nicht hineinspielt. Das Gegenteil von dem was landläufig unter Subsidiarität verstanden wird. Dies erscheint umso bedauerlicher als die Entscheidungsverfahren in den drei Kompetenzfeldern so verwirrend geworden sind, dass sie für die BürgerIn kaum nachvollziehbar werden.

 

Lediglich bei den unterstützenden Kompetenzbereichen wird einheitlich verfahren, nämlich  mit der „offenen Koordinierung“ der Regierungen. Aber gerade hier ist die Sorge der wegbrechenden parlamentarischen Kontrolle besonders akut. Gleiches gilt für die GASP und die innere Sicherheit, deren Gestaltung durch die Einstimmigkeit faktisch ausschließlich in den Händen der Regierungen bleibt. Der nationalen Parlamentskontrolle zunehmend entwunden, fehlt auch jegliche substanzielle Einflussmöglichkeit des Europäischen Parlamentes.

 

Dieses Kompetenzgewirr ist vor allem der Tatsache geschuldet, dass der Teil III der Verfassung praktisch 1 zu 1 die bisherigen Zustände der EU-Verträge abgebildet hat, während die ersten beiden Teile weitgehend vom Konvent gestaltet wurden. Hier wird also deutlich, dass die bisherigen Rechtsgrundlagen der Union nicht zu einem Gesamttext verschmolzen werden konnten. Ganz abgesehen davon, dass der umfangreichste Teil III, alles andere als als ein Verfassungstext erscheint.

 

Die fortgesetzte Kompetenzaneignung konnte den nationalen PolitikerInnen und ParlamentarierInnen offenbar durch ein sogenanntes Subsidiaritätsverfahren abgekauft werden, das nationalen Parlamenten dann, wenn sie sich Zusammentun, eine Vetomöglichkeit gegen Initiativen der Kommission einräumt. Dieses bezieht sich allerdings wiederum auf alle Rechtsakte der EU, soweit sie von den nationalen Parlamenten als subsidiär betrachtet werden , also auch auf die „ausschließlichen Zuständigkeiten der Union“ und nicht auf jene Politiken, bei denen die EU lediglich geteilt, unterstützend oder koordinierend die nationalen Politiken begleitet.

 

Im Teil 1 wird darüber hinaus ein Präsidentenamt des Rates (2 ½ bis 5 Jahre)  und ein Außenministeramt für die EU eingeführt. Gerade letzterer ist mit seiner doppelten Zuständigkeit gegenüber dem Rat und der Kommission ein verfassungsmäßig problematisches Mischorgan. Präsident und Außenminister droht wegen offensichtlicher Regelungsmängel ein Kompetenzgerangel. Überdies werden die nationalen Außenpolitiken insbesondere der großen Drei Deutschland, Frankreich und England kaum auf eigene Führung verzichten wollen. „Es ist auch die Frage, ob die Kommission durch diese Sonderstellung des EU-Außenministers nicht Gefahr laufen könnte, in ihrer Stellung und politischen Verantwortung geschwächt zu werden, ja für Maßnahmen „haftbar“ gemacht zu werden, für die sie letztlich nicht oder nicht alleine die Verantwortung trägt.“ (Lenz/Borchhardt, Köln, S. 104) Auf diese Weise der doppelhütigen Zuständigkeit des Außenministers kann jedenfalls keine demokratische Verankerung einer Europäischen Außenpolitik ersetzt werden.

 

Am 29. Oktober 2004 haben die Staats- und RegierungschefInnen der Europäischen Union in Rom in einer feierlichen Zeremonie den Vertrag über eine Verfassung für Europa (Verfassungsvertrag) unterzeichnet.  Bis Mitte 2007 haben achtzehn Mitgliedstaaten, das sind zwei Drittel - darunter Spanien und Luxemburg über eine Volksabstimmung - den Verfassungsvertrag ratifiziert. Weitere vier Mitgliedstaaten haben die Ratifizierung in Aussicht gestellt. Die negativen Referenden in Frankreich und den Niederlanden haben zu einem Stop des Ratifizierungsprozesses geführt.

 

Der Reformvertrag verfestigt alte Unübersichtlichkeiten

 

Nach einer zweijährigen Reflexionsphase unternahm die deutsche Ratspräsidentschaft den Versuch eine „road map“ mit der Einberufung einer Regierungskonferenz bis Ende des Jahres 2007 auf Grundlage des Verfassungsvertrages durchzusetzen.

 

Die deutsche Ratspräsidentschaft hatte also im ersten Halbjahr 2007 die knifflige Aufgabe die Vertragsreform nach dem Scheitern des Verfassungsvertrages wieder in Gang zu bringen und das vor dem Hintergrund der nichtabgeschlossenen Regierungsbildung Sarkozy in Frankreich und des Wechsels an der Spitze der britischen Regierung von Blair zu Brown. Die Regierungen Frankreichs, der Niederlande, Polens und Großbritanniens standen jetzt keineswegs mehr zu ihrer Unterschrift unter dem Verfassungsvertrag.

 

Also griff die deutsche Kanzlerin zu einem Trick. Sie versuchte die Inhalte aus der Verfassungsdebatte wieder zurückzuführen in das vorhandene Primärrecht des EU- bzw. EG-Vertrages.  Letzterer wurde in „Vertrag über die Arbeitsweise der Union“ umbenannt. Ein komplizierter Titel für europarechtliche Feinmechanik. Andererseits öffnete sie für Sonderwünsche aus den genannten Ländern das Verfassungsvertragswerk.

 

Im Vordergrund des EU-Gipfels stand die Festlegung eines möglichst präzisen inhaltlichen Mandats für eine Regierungskonferenz zur Erstellung einer neuen rechtlichen Grundlage der Union, welche vor den EP-Wahlen 2009 in Kraft treten sollte. 

 

Dieses Mandat beinhaltet, dass der Ausdruck „Verfassung“ in dem Text nicht mehr vorkommt. Auf die Nennung von Fahne und Hymne als EU-Symbole wird verzichtet. Es wird mit dem Reformvertrag eine einheitliche Rechtspersönlichkeit geschaffen. In Hinkunft wird durchgängig von Europäischer Union zu sprechen sein.

 

Die EU soll erstmals in ihrer Geschichte einen Außenminister erhalten, der aber mit Rücksicht auf Großbritannien „Hoher Repräsentant der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik“ heißen wird. In seinem Amt werden die Funktionen des bisherigen EU-Außenbeauftragten und des EU-Außenkommissars gebündelt. Der Europäische Rat soll für jeweils zweieinhalb Jahre von einem Präsidenten geleitet werden. Die Präsidentschaft des normalen Ministerrates rotiert weiterhin alle sechs Monate zwischen den Staaten.

 

Die im Jahr 2000 beschlossene Grundrechtecharta der EU soll zwar rechtsverbindlich werden, sie taucht aber nur mehr in einem Verweis in Artikel 6 EU-Vertrag. Die Charta selbst orientiert sich an der vor 50 Jahren verfassten Europäischen Menschenrechtskonvention, enthält aber auch neue Rechte, etwa beim Datenschutz oder beim Verbot des Klonens zu Fortpflanzungszwecken. Aufgenommen wurden auch soziale Rechte und das Recht auf unternehmerische Freiheit.

 

Nach in Kraft treten des Reformvertrages, voraussichtlich Anfang 2009, wird die GASP in „Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen“ (Art I-41 (1) Verfassungsvertrag) weiter entwickelt werden.  Damit wird auch für die EU-  Auslandseinsätze  ein UN-Mandat zur Voraussetzung.  Der neue Vertrag geht noch weiter (Art. 305 Abs EVV):  Er „fügt jedoch für die im Sicherheitsrat der VN vertretenen MS die Verpflichtung hinzu, dort den Vortrag (...) durch den EU-Außenminister zu beantragen....“ (Lenz/Borchhardt, Köln 2006)

 

Die englische Regierung hat am Gipfel im Juni 2007 durchgesetzt, dass die Bestimmungen der Charta in keiner Weise die britische Rechtsprechung beeinflussen können. Auch Polen ließ eine Erklärung einfügen, wonach die Grundrechte-Charta nicht das Recht der Mitgliedstaaten beeinträchtige, im Bereich der öffentlichen Moral, des Familienrechts und bei der Achtung der menschlichen physischen und moralischen Integrität Gesetze zu verabschieden.

 Die französische Regierung hat für die Verfassungsgegner herausgeholt, dass „unverfälschter Wettbewerb“ als Ziel aus dem eigentlichen Vertragstext in den Anhang verschoben wurde.

Dem Drängen der Niederländer auf mehr Kontrollrechte der nationalen Parlamente gegenüber der EU-Kommission wurde nachgegeben. Die EU-Kommission muss demnach ihre Gesetzesvorschläge überprüfen und stichhaltig begründen, wenn dies mehr als die Hälfte der nationalen Parlamente verlangt, der Kommission also die gelbe Karte zeigt. Im Extremfall kann dies dazu führen, dass ein Gesetzesprojekt der Kommission zu Fall gebracht wird.

 

Weiters ist auf Initiative der Niederlande in Art. 4 Abs. 2 EU-Vertrag[7] verankert: „nationale Identität, die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen einschließlich der regionalen und lokalen Selbstverwaltung zum Ausdruck kommt. Sie achtet die grundlegenden Funktionen des Staates, insbesondere die Wahrung der territorialen Unversehrtheit, die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der nationalen Sicherheit. Insbesondere die nationale Sicherheit fällt weiterhin in die alleinige Zuständigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten.“  Damit ist nicht nur der Status der immerwährenden Neutralität auch weiterhin im Rahmend er EU problemlos möglich. Auch ist so auf Grundlage dieses Reformvertrages, die Einführung einer militärischen Beistandsverpflichtung, oder die Bildung einer Europäischen Armee ausgeschlossen. 

 

Polen wurde eine Verschiebung der Anwendung des Abstimmungssystems der doppelten Mehrheit bis 2014 zugestanden (wobei auch in einer Übergangsperiode bis 2017 noch das derzeitige Modell anwendbar sein kann. Erst danach erfordern EU-Beschlüsse eine Mehrheit von 55 Prozent der Staaten, die 65 Prozent der Bevölkerung umfassen müssen.

Großbritannien erreichte neben Zugeständnissen im außenpolitischen Bereich eine Reihe von Opt-out/Opt-in-Klauseln für die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit, welches für die Zukunft noch einige rechtliche Probleme aufwerfen könnte.

Die tschechische Regierung hat durchgesetzt, dass in Zukunft Kompetenzen auch wieder auf die nationale Ebene zurückgehen können.

 

Darüber hinaus ist die Rechnung der Deutschen wohl aufgegangen, dass durch das Umgießen der Verfassungsinhalte in das vorhandene Primärrecht die Widerstände überwunden werden konnten. Vorerst. Denn damit ist erst ein Mandat geschaffen, das in der Folge die Juristischen Dienste durchlaufen hat, um letztlich erneut durch die einzelnen Mitgliedstaaten ratifiziert zu werden.  

 

 

 

3) Schlussfolgerungen:

 

Die Erweiterung der Union spielte sich also nicht nur als territoriale, sondern auch als Erweiterung der Politikfelder, über die die Union bestimmen oder mitbestimmen wollte, ab. Diesem doppelten Erweiterungsprozess wurde kein angemessener Reformprozess der Verfahren und der Handlungsmöglichkeiten der Europäischen Institutionen zur Seite gestellt, der auch imstande gewesen wäre, die neuen Aufgaben sowohl hinsichtlich der Akteure als auch hinsichtlich der Gegenstände bewältigbar zu halten.

 

Die Verfassungsidee kann bis auf Weiteres ad acta gelegt werden. Die Frage der Demokratisierung der Union bleibt damit aber auch weiterhin offen. Auch die Frage der Finalität der Union bleibt unbeantwortet.

 

Die jetzt bevorstehende Vertragsreform unter dem Titel Reformvertrag bringt keinen Gewinn an Verständlichkeit oder Transparenz. Fortschritte konnten bezüglich der Rückbindung an die nationale Ebene erreicht werden.

 

Die einstimmigen Verfahren bleiben in zentralen Politikfeldern wie dem Haushalt, der Außen- oder der Verteidigungspolitik aufrecht. Die Entscheidungsverfahren der Einstimmigkeit können über kurz oder lang je größer die EU wird und je widersprüchlicher ihre Interessen werden nur zu Blockade oder Stillstand führen. Umgekehrt scheint die offene Koordinierung als Methode zu unverbindlich, als dass tatsächliche politikmächtige Beschlüsse auf ihrer Basis erfolgen könnten.

 

Die für die Bürgerinnen und Bürger vitale Frage der Grundrechte wurde durch die opt out Möglichkeit Polens und Großbritanniens ausgehöhlt.

 

Mehr als eigenartig muss die Verschiebung der bisherigen Substanz der EU – unverfälschter Wettbewerb - aus den Zieldefinitionen in ein Protokoll aufgefasst werden. Mit dieser rein kosmetischen Maßnahme nimmt der neue Präsident des Gründungsstaates Frankreich ein Doppelspiel auf, das sowohl in seinem Land als auch in der EU nur zu Verwirrung und weiterem Legitimationsabbau der EU führen wird. 

 

Der geringe Grad an Parlamentarisierung spiegelt die heute bereits fehlende Legitimation der EU wieder. Wenngleich im Reformvertrag die Mitwirkungsrechte des Europäischen Parlamentes in vielen Politikbereichen eingeführt werden, auch die Kontroll- und Haushaltsrechtliche Hoheit formell eingeführt wird, so bleibt es dabei, dass dieses nicht die Rechte eines Vollparlamentes besitzt. Auch die Subsidiaritätskontrolle durch nationale Parlamente kann da wenig an Einschränkung der Macht des Rates verändern. Diese eröffnet auch weiterhin die Möglichkeit für weitere nationale „Spielchen“. Diese Struktur löst zentrifugale Tendenzen aus, die Tendenzen zu einem Kerneuropa stärken.

 

Positiv anzuerkennen am Reformvertrag ist, dass die Umsetzung der sogenannten Kopenhagen-Kriterien (Art. 2 EUV) für weitere Beitrittswerber (Art. 34 EUV)rechtlich verbindlich werden. Die Kompetenzaufteilung, die sich stärker am allgemeingültigen Subsidiaritätsverständnis orientiert: Was nicht als EU-Kompetenz ausgewiesen ist, ist von nationaler oder regionaler Ebene zu bestimmen. Und auch die Möglichkeit der Rückgabe einer Kompetenz an die nationale Ebene ist im Sinne verbesserter politischer Gestaltungsmöglichkeiten zu begrüßen. Auch der Ansatz einer Einbindung nationaler Parlamente ist einen Versuch wert. Im Weiteren ist zu beobachten, ob dieser Ansatz nicht über die reinen Subsidiaritätsgegenstände hinaus auch auf alle Rechtsgrundlagen auszudehnen ist.  

 

Selbst das Überleben des Reformvertrages steht allerdings in Frage. Volksabstimmungen in Irland, eventuell auch in Dänemark, Polen oder den Niederlanden könnten auch diese Vertragsversion ins Wanken bringen. Zusätzlich sind Regierungen wie die jüngere Vergangenheit gezeigt hat, auch immer stärker bereit für ihr innenpolitisches standing das Äußerste in der EU für sich herauszuholen. Auch das kann den Ratifikationsprozess noch gefährden.

 

Die Erweiterung der Union  braucht einen friedenspolitischen Sinn und Zweck.  So könnte beispielsweise ein Projekt der Brücke nach Asien und des Dialoges mit dem Islam bei den Beitrittsverhandlungen mit der Türkei verbunden werden. Die Lösung des Zypernkonfliktes und die Stabilisierung der Demokratie auch für die kurdische Bevölkerung in Ostanatolien wären weitere große Aufgaben einer derartigen friedenspolitischen Sinnstiftung des Türkei-Beitrittes.

 

Die Beitritte südosteuropäischer Nachfolgestaaten Jugoslawiens und Albaniens muss Hand in Hand mit einer minimalen Aussöhnung der unterschiedlichen ethnischen Gruppen insbesondere in Bosnien-Herzegowina organisiert werden. Mit einer intensiven Begleitung der Lösung des Kosovo-Problems, mit einer Stabilisierung des Rechtsstaates und der Demokratie auch für Minderheiten. Die Konsolidierung der Wirtschaft durch eigene Bemühungen und flankierende europäische Mittel zur Strukturreform sind als Anreiz in diesem friedenspolitischen Prozess aktiv einzusetzen.

 

 Die Europäische Union hat inzwischen einige wesentliche staatliche Elemente ohne entsprechende demokratische Verfahren, Kontrolle und Gestaltung:

1) Sie beschließt Gesetze und unterwirft damit ihre Bürgerinnen und Bürger einem neuen Rechtsraum. An der Spitze des europäischen Institutionendreiecks steht der Rat. Dadurch eskalierte der Streit um die Stimmgewichtung der einzelnen Nationalstaaten im Rat.  Die Frage der Stimmgewichtung wurde erst virulent, da kein Vollparlament mit Initiativ-, Haushalts- und Kontrollrecht,  das Fundament der Union bildet. Die Konsequenz aus diesem, für eine Institution, die ständig Rechtsstaatlichkeit und Demokratie im Munde führt, untragbaren Zustand, wurde bis dato aber nicht gezogen. Nämlich aus dem Europa der Regierungen eines der Parlamente zu machen. Bereits der Verfassungskonvent hat gezeigt, dass ein parlamentarisch bestimmtes Gremium wesentlich weitergehende Reformvorschläge unterbreiten kann als das von Machtinteressen gelähmte Organ der RegierungschefInnen. Nichtsdestotrotz bleibt die Union auf diese Weise ein merkwürdiges Konstrukt zwischen Internationaler Organisation und - aufgrund der immer engeren rechtlichen Verflechtungen – einem Vielvölkerstaat. Den Gefahren, denen auch Vielvölkerstaaten unterworfen sind, ist auch die Union bereits heute ausgesetzt.

2)  Die EU hat eine gemeinsamen Markt und eine gemeinsame Währung. Sie verfolgt eine Wirtschaftspolitik der Hartwährung, der Preisstabilität und der Verringerung der Staatsausgaben.

Die Maastrichtkriterien schränken die wirtschaftspolitischen Möglichkeiten auf ein minimales Maß ein. Soziale Kriterien wie Arbeitslosigkeit fehlen. Das kurzfristige Schuldenkriterium ist zu strikt um antizyklische Konjunkturpolitik zu betreiben. Das Inflationskriterium unterbindet eine aktivere Zinspolitik der EZB. Das Ergebnis dieser Wirtschaftspolitik der EU ist eine Unterordnung unter das US-Weltfinanzsystem.  Der Standortwettbewerb kann durch gemeinsame Unternehmenssteuern in den Mitgliedstaaten und durch die Einführung von Mindestlöhnen (zB 30 % unter dem durchschnittlichen Einkommen, was auch einen Lohnanreiz nach oben insbesondere in den Niedriglohngruppen auslösen könnte) ausgeglichen werden.

 

3) Sie betreibt eine Haushaltspolitik die sowohl hinsichtlich der Mittelaufbringung als auch hinsichtlich der Ausgabenstruktur der Einstimmigkeit unterworfen und damit extrem schwerfällig ist. Die Erweiterung erhöht sozioökonomische Disparitäten zwischen den EU-Mitgliedstaaten. Diese Unterschiede können auch die sozialen Gegensätze innerhalb der alteingesessenen europäischen Wohlstandsgesellschaften verschärfen. Die Vermehrung der Mitgliedstaaten verschärft die Zielkonflikte der haushaltspolitischen Entwicklung der Europäischen Union.

Ohne Neufassung der Budgetpolitik werden diese Zielkonflikte unbewältigbar werden.

Die Förderinstrumentarien, die die Verkehrs-, Landwirtschafts-, Forschungs und Wirtschaftsstruktur zentral beeinflussen und die von der Kommission ausgeschüttet werden, müssen grundlegend überdacht werden. Die Einnahmenpolitik über Eigenmittelaufbringung (z. B.: Steuer auf Finanztransaktionen und Kerosin) ist neu zu gestalten. Um flexibler zu werden sind kürzere Budgetperioden zu etablieren, die Schieflage der Landwirtschaftsförderung zugunsten von Struktur- und Kohäsionsmittel umzustrukturieren. All das ist nur unter der Bedingung des Aufbrechens der Einstimmigkeit auch in diesem Politikbereich denkbar. Das Zieldatum für die dafür nötige neuerliche Revision des Vertrages wäre mit 2012 anzusteuern, da dann auch die nächsten budgetären Weichenstellungen zu treffen sind und auch neue Perspektiven für Beitrittswerber zu schaffen sind.

4) Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die auch durch Einstimmigkeit gelähmt wird und dadurch von den drei Großen Deutschland, Frankreich und Großbritannien im Fahrtwind von USA und Nato formuliert werden kann, ist neu aufzusetzen. Mit der Absage an miltiärischen Beistand und EU-Armee im Art. 4 des Reformvertrages, ist auch der interventionistische Ansatz der militärischen Sicherheitspolitik mit Kampfeinsätzen durch battle groups, der ausschließlich dazu dient, die US-Außenpolitik zu kopieren und zu unterstützen, zurückzunehmen und eine Ausrichtung im Sinne des peace-keeping an seine Stelle zu setzen. Eine gemeinsame Außenpolitik kann auf dieser Basis ebenso wie die Militärpolitik vergemeinschaftet werden, der Einstimmigkeit entwunden und der qualifizierten Mehrheit überführt werden. Damit kann eine auf Zusammenarbeit, Verlässlichkeit und Vertrauen beruhende Außenpolitik entwickelt werden. Zivile Mittel und Wirtschaftshilfe sind als konstruktive Elemente einer Europäischen Friedenspolitik einzurichten. Auch dieser Bereich muss den Menschen- und Grundrechten und der vollen parlamentarischen Kontrolle unterworfen werden. Der Verzicht auf Massenvernichtungswaffen und die Anerkennung des Gewaltmonopols der UNO können auch positive globale Prozesse auslösen und wären ein echter Beitrag zur Stärkung des Weltfriedens. Die Bildung eines militärischen Kerneuropa („Strukturierte Zusammenarbeit“) in der auch die sogenannte Aufrüstungsverpflichtung greifen würde, ist zu vermeiden.

 

Es geht  also um nicht mehr und nicht weniger als um die derzeitigen EU-Politikbereiche auf eine demokratisch-parlamentarische Grundlage zu stellen, bevor weitere Schritte der Ausweitung der Politikbereiche und der Ausdehnung des Herrschaftsraumes der EU unternommen werden. Jede weitere Europäisierung von Politikfeldern ist auszusetzen, solange die Verfahren nicht auf Mehrheitsentscheidungen umgestellt sind. Die Zweckmäßigkeit der geteilten bzw  unterstützenden Zuständigkeiten ist im Zuge dessen zu prüfen.

 

Der jetzt vorliegende Reformvertrag versucht lediglich die Verfahren für die bereits heute bestehende EU der 27 so gut es eben im Sinne einer politischen Handlungsfähigkeit gegangen ist, zu begründen. Für eine EU unter Teilnahme der Türkei oder der Länder Südosteuropas fehlen nicht nur die Beschlüsse über deren mögliche EP-Sitze, sondern auch alle tiefergehenden Perspektiven. So wird die Haushaltsbelastung durch einen Beitritt der Türkei mit den derzeit bestehenden Instrumenten ebenso wenig zu bewältigen sein, wie eine Verteidigungspolitik oder die Formulierung einer Außenpolitik unter den gegenwärtigen Bedingungen gemeinsam mit der Türkei nur schwer vorstellbar ist. Auch bildet das Regime des opting out der Briten und Polen aus der Grundrechte-Charta und aus dem Bereich Justiz und Inneres ein denkbar schlechtes Vorbild für Beitrittswerber.  Vollkommener Stillstand mit der Gefahr der Rückentwicklung wären die Folge, wenn unter den Bedingungen des status quo weitere neue Mitglieder aufgenommen werden.

 

Die Gründungsidee der Gemeinschaft durch wirtschaftliche Zusammenarbeit zu einem friedlichen Zusammenleben am europäischen Kontinent zu finden ist heute aktueller denn je. Statt einen Raum des Standortwettbewerbes im Inneren und dem Streben danach der „wettbewerbsfäigste Wirtschaftsraum der Welt“ zu werden, bedarf es jedoch eines Raumes des der wirtschaftlichen Zusammenarbeit im Inneren und der sozioökonomischen Kooperation mit den Nachbarn. Statt einer Gemeinschaft Kohle und Stahl bedarf es heute einer Gemeinschaft für Energieeffizienz, erneuerbare Energieträger und des Klimaschutzes. Statt Landwirtschaftsförderung braucht es Mittel für soziale Mindestsicherungen und ein System des bench-marking im Bereich der Sozialpolitik.

 

 

Literatur:

 

Aiginger Karl, Landesmann Michael: Competitiveness of the Wider Europe and its Impact on transatlantic Relations,  paper prepared for the Berkeley Conference September 2005 WIFO/WIIW

Attac: Towards a new legal foundation of the European Union, Paris 2007

Bauer, Patricia/Schweitzer, Bertold, Nach der Osterweiterung: Grenzen und Chancen der stabilen Systementwicklung in der Europäischen Union, in: ÖSFK (Hg.), Europa und die Dynamik der globalen Krise, Münster 2006.

Breuss Fritz; EU-Erweiterung: Europas große Chance; WIFO, September 2000.

Fassbender, Kurt: Das Ende der Illussionen, in FAZ Nr 136 vom 15.06.2007

Krippendorff, Ekkehart (1977): Internationale Beziehungen als Wissenschaft. Einführung 2, Frankfurt am Main: Campus.

Krippendorff, Ekkehart (1982): Internationales System als Geschichte. Einführung in die internationalen Beziehungen, Frankfurt am Main: Campus.

Lenz, Carl Otto; Borchhardt, Klaus-Dieter: EU- und EG-Vertrag, Kommentar, Köln 2006

Mappes-Niediek, Norbert: die Ethno-Falle, Berlin 2005.

Matzner, Egon (2000): Monopolare Weltordnung, Marburg, Metropolis.

Mokre, Monika/Puntscher-Riekmann, Sonja, Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik: Wille und Wege, in: G. Chaloupek et al. (Hg.), Sisyphus als Optimist, Hamburg 2005.

Oberndorfer, Lukas (2007): Die periphere Integration Mittel- und Osteuropas in die EU; in: Wagner, Alice/Wedl, Valentin: Bilanz und Perspektiven zum europäischen Recht, Wien 2007.

Offe, Claus (2001): Gibt es eine europäische Gesellschaft? Kann es eine geben? In: Blätter für deutsche und internationale Politik 4: 423-434.

Puntscher-Riekmann, Sonja: Die kommissarische Neuordnung Europas, Wien-New York 1998.

Steyrer, Peter: Integration, (2003) Souveränität, Identität; Sicherheit und Verfassung in Europa, in Dialog 43, Stadtschlaining/Münster, agenda-verlag.

Steyrer, Peter: Zwischenruf im Beistandsjubel, Europäische Sicherheit und Neutralität in Kurwechsel 1/2004

Steyrer, Peter: Überlegungen zur Finalität der Europäischen Union

Stix-Hackl, Christine/Dossi, Harald, Hg. (2005): EU-Kodex Europarecht. Verfassungsrecht der Europäischen Union, 5. Aufl., Wien: Orac.

 

EU-Ratshomepage: http://www.consilium.europa.eu/cms3_fo/showPage.asp?id=1317&lang=en&mode=g

Stand 20.Oktober 2007 : „Entwurf eines Vertrages zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft., CIG 1/1/07, CIG 2/1/07, CIG 3/1/07, CIG 4/1/07

 

 

 

 

 

 

 

 



[1] Die Einleitung des EURATOMvertrages besagt: „ENTSCHLOSSEN, die Voraussetzungen für die Entwicklung einer mächtigen Kernindustrie zu schaffen, welche die Energieerzeugung erweitert, die Technik modernisiert und auf zahlreichen anderen Gebieten zum Wohlstand ihrer Völker beiträgt,

IN DEM BESTREBEN, die Sicherheiten zu schaffen, die erforderlich sind, um alle Gefahren für das Leben und die Gesundheit ihrer Völker auszuschließen,

IN DEM WUNSCH, andere Länder an ihrem Werk zu beteiligen und mit den zwischenstaatlichen Einrichtungen zusammenzuarbeiten, die sich mit der friedlichen Entwicklung der Kernenergie befassen...!

 

[2] Art. 3a des Maastrichtvertrages bekennt sich zu folgenden Grundsätzen: „stabile Preise, gesunde öffentliche Finanzen und monetäre Rahmenbedingungen sowie eine dauerhaft finanzierbare Zahlunbgsbilanz.“. Die Kommission hat konkret verlangt. Zu Preisstabilität: Die Inflationsrate darf nicht höher als 1,5 Prozent der Inflationsrate der drei EU-Länder mit der niedrigsten Inflationsrate liegen.Öffentliche Finanzen: Das Defizit des öffentlichen Sektors darf nicht über 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (das ist die gesamte Wirtschaftsleistung eines Staates) liegen, die Schulden aller öffentlichen Haushalte (Bund, Länder, Gemeinden) dürfen nicht höher als 60 Prozent des BIP liegen.

 

[3] Linke Kolumne entsprechend den Beschlüssen von Maastricht, rechte Kolumne entsprechend der 20.Erklärung  zu Erweiterung der EU im Vertrag von Nizza

 

[4] Die Daten der Parlamentssitze orientieren sich am Beschluss des Verfassungsausschusses des EP vom 2.10.07 sowie der Revision zu Gunsten Italiens am Gipfel von 17./18.Oktober 07 in Lissabon.

 

 

[6] 23.Erklärung zur Zukunft der Union.

[7] Die hier verwendeten Artikelnummerierungen des EUV sind  bereits jener des Reformvertrages entnommen.