Überlegungen zu INF

 

Seit 30 Jahren ist der INF-Vertrag zwischen Washington und Moskau in Kraft. Das Hauptverdienst des Vertragswerkes war, den Vertragspartnern eine Atempause im Wettrüsten zu verschaffen. Dabei waren die Rollen ohnehin ungleich verteilt. Die Sowjetunion lag in ihren letzten Zügen; mit Gorbatschow stand zwar ein moralisierender Reformer an der Spitze der Union, aber er und seine engsten Berater missachteten oder unterschätzten  völlig die komplexen Fragen der internationalen Sicherheit. So gesehen war der INF-Vertrag mit Wirkung von 1988 ein Gewinn für die Sowjetunion. Für die Amerikaner war der Vertrag ohnehin ein Gewinn: Ihr Territorium lag außerhalb der Reichweite der betroffenen Raketensysteme. Die potentiellen Gefahren, die von luft- oder marinegestützten Systemen ausging, hielt man für beherrschbar oder wurden durch andere Abkommen abgedeckt. Russland als Rechtsnachfolger der Sowjetunion gewann ebenfalls, schließlich ging damals von den osteuropäischen Staaten keinerlei Gefahr für Russland aus.

Und Europa? Die Bilder von den Massendemonstrationen gegen die NATO-Nachrüstung durch die Aufstellung von Pershing II-Raketen sind noch heute in den Köpfen der Leute. Sie wussten, wie auch die Generalstäbe der europäischen NATO-Partner, dass Europa zum Hauptkampfgebiet der beiden Blöcke geworden ist und dass es praktisch kein größeres Gebiet in Europa gibt, das nicht von atomaren Sprengköpfen bedroht ist. Das Ende des INF-Vertrages bedeutet nicht, dass Europa jetzt unsicherer geworden wäre, es muss nur seine sicherheitspolitische Verantwortung zu einem großen Teil selbst übernehmen. Die USA haben kein Interesse an einer Zerstörung Europas, denn dazu ist die wirtschaftliche und auch politische Bindung viel zu groß. Doch die amerikanische Drohung, den Schutzschild von Europa zu nehmen, versetzt die Staatskanzleien vor allem in Berlin in helle Aufregung. Großbritannien hat sein militärisches Nuklearpotential eng mit den USA abgestimmt und ist dadurch etwas sicherer. Frankreich hofft, dass seine force de frappe Russland davon abhält, im Falle eines Falles Schläge gegen Paris zu führen, ist also auch etwas sicherer; doch Deutschland ist zweifellos wieder zum Hauptkampfgebiet geworden und hat kein eigenes Drohpotential. Es sind also die Europäer, die zu Geiseln geworden sind. Sie können sich nicht aus und von der NATO lösen. Die letzten NATO-Einsätze, die durchwegs nach aussen hin politisch gerechtfertigt und militärisch durchgeführt wurden, waren ohne gewünschte Erfolge. Afghanistan ist ein Debakel, Mali eine Verschwendung von Ressourcen ohne Erfolg, in Bosnien herrscht Stagnation und Resignation. Europa und vor allem die EU ist nicht in der Lage, geschlossen aufzutreten. Das größte Interesse am Weiterbestehen des INF-Vertrages muss Europa haben, es hat allerdings keinen Hebel, kein Werkzeug und es zeigt sich, dass die einseitige Bindung an den einen Partner bei gleichzeitigem Misstrauen gegen den anderen keine gute Strategie ist. Überdies merken die anderen Mitspieler wie China, dass Europa, genaugenommen die EU, ein Papiertiger ist. Die EU versagt nach außen und innen. Immerhin hielt der INF-Vertrag 30 Jahre, vielleicht finden die EU-Sanktionen gegen Russland auch nach drei Jahrzehnten ein Ende, ohne etwas bewirkt zu haben. Die russische Wirtschaft hat sich seit Beginn der Sanktionen durchaus erholt, die Volkswirtschaften der wichtigen EU-Mitgliedsländer hingegen scheinen vor einer größeren Rezession zu stehen. Wo bleibt die ultima ratio?

Amerika braucht den INF-Vertrag nicht und Russland auch nicht, das ist nicht neu, sondern schon seit etwa zehn Jahren aus seriösen Quellen abzulesen. Bis es allerdings zu einem Vertragswerk kommt, bei dem sich alle Atommächte zu einer wie auch immer gearteten Reduzierung oder Verbot von bestimmten Trägersystemen verpflichten, wird noch viel Zeit vergehen. Vielleicht kann dabei die OSZE eine zentrale Rolle spielen.

 

 

 

 

Dr. Peter Lüftenegger

Februar 2019