Axel Vogel, MdL, Potsdam

Bündnis 90/Die Grünen am Climax?

Rekordergebnisse, Mitgliederboom, der erste Grüne Ministerpräsident, das Jahr 2011 war das Jahr der grünen Superlative in Deutschland. Die Mandatszahl in den sieben neu gewählten Landesparlamenten wurde bei Stimmengewinnen von durchschnittlich 6,3 Prozent von 66 Sitzen auf 134 Sitze mehr als verdoppelt, die Mitgliederzahl stieg im Laufe des Jahres um mehr als 10 % auf inzwischen fast 60.000 Mitglieder. Im hessischen Darmstadt wurde mit über 60 % ein weiterer grüner Oberbürgermeister ins Amt gewählt, die Kommunalwahlen in Hessen und Niedersachsen mit teilweise sensationellen Ergebnissen abgeschlossen.

 

Und dennoch endete das Wahljahr 2011 für die Grünen mit einem Mißklang. Trotz eines Zugewinns von 4,5 % auf nunmehr 17,6 % wurde das Berliner Wahlergebnis  in Anbetracht der vorher in Umfragen auf bis zu 30 % hochgeputschen Erwartungen und des zum zentralen Wahlkampfthema erhobenen Ziels Renate Künast als Regierende Bürgermeisterin zu implementieren  allgemein als Niederlage eingestuft. Am Ende stand eine zwar größere, aber von Flügelkämpfen gelähmte Abgeordnetenhausfraktion, der Verlust der sichergeglaubten Regierungsbeteiligung in einer grün-roten oder  rot-grünen Landesregierung, die öffentliche Abkehr von schwarz-grünen Regierungsoptionen  und der Aufstieg der Piratenpartei. Oder mit den Worten der Berliner Landesvorsitzenden:

 

Wir haben einen Wahlkampf gemacht, der die Stadt, unsere Wählerinnen und Wähler und unsere Kandidatin nicht richtig zusammen gebracht hat. Bei der Wahlkampagne hat uns der Mut gefehlt, selbstbewusst eine Grüne Linie zu präsentieren. Wir kamen mit einer Anmutung daher, die weder zu uns gepasst noch die passende Geschichte über uns oder die Kandidatin erzählt hat. Weder haben wir damit die „klassischenErwartungen an uns erfüllt noch überzeugend dargestellt, dass auch eine Grüne Partei mit 30% anders ist als andere Parteien dieser Größe. Das hat nebenbei eine Steilvorlage für die Piraten geliefert, sich alsanders als alle anderenpräsentieren zu können. Auch als etablierte Partei müssen wir authentisch und unverwechselbar grün bleiben.”

 

Mehr dazu unter http://gruene-berlin.de/schwerpunkt/Thesen-des-Landesvorstands-zum-Wahlkampf-2011

 

Nach den Berliner Wahlen gingen die grünen Umfragewerte ersteinmal in den (gefühlten) Keller und verharren seitdem bei Werten zwischen 14 und 16 Prozent. Zeitgleich legten die Piraten  bei  fast allen Umfrageinstituten auf Werte über der entscheidenden Fünfprozenthürde zu, gewannen 8.000 Neumitglieder auf inzwischen 20.000 Mitglieder hinzu und trugen ihren Anteil dazu bei, dass FDP deutlich unter die 5 Prozent-Hürde gedrückt und die LINKE an die 5 Prozent heruntegedrückt wurde. Es ist ein großer Irrtum anzunehmen, dass die Piraten aufgrund ihrer Netzpolitik von lauter Computer-Freaks gewählt werden. Die Jungmännerpartei hat zwar ihre eigene Kultur und kann es sich leisten unter 15 Abgeordenten eine einzige Frau zu präsentieren ohne dass es in ihrer Klientel einen Aufschrei gäbe. Nach den Berliner Wahlanalysen hatten die Piraten als unspezifische Protestpartei in allen Lagern gewildert und drohen nunmehr auch die zuvor für die nächsten Bundestagswahlen erwartete rot-grüne Mehrheit zu torpedieren. Auch das bewußte Kokettieren der Piratenführer mit dem eigenen Unwissen (Die anderen haben auch keine Antworten, aber wir stellen die richtigen Fragen) schadet ihnen nicht.

 

Härter trifft der Aufstieg der Piraten allerdings die bei den letzten Bundestagswahlen noch von einer Vielzahl von Jungmännerstimmen auf das Sensationsergebnis von 14 % gehievte FDP, die nunmehr  wirkungsvoll demonstriert, wie man mit einer unzeitgemäßen Politik (Steuersenkungen in Zeiten der Finanzkrise) und einem unattraktiven Personaltableau aus einem  komfortables Stimmenpolster in das politische Nirwana abgleiten kann. Ernst genommen wird diese FDP aktuell von niemanden mehr und spielt wohl in keiner Zukunftsplanung anderer Parteien noch eine Rolle. Es würde nicht einmal vewundern, wenn die Kanzlerin die Gunst der Stunde nützte, sich  mit Neuwahlen der FDP zu entledigen und eine erneute große Koalition unter ihrer Führung zu erzwingen, da das linke Lager durch das Aufkommen der Piratenpartei und der unveränderten Bündnisunfähigkeit von SPD und Linker auf Bundesebene  trotz eines großen Stimmenvorsprungen kaum eine Chance auf eine reale Machtausübung haben wird.

 

Ganz im Gegenteil hat Wowereits Berliner Wahlsieg die alte SPD-Präpotenz wieder aufleben lassen, die seit den dort gescheiterten Koalitionsverhandlungen in Berlin unisono mit der CDU die Grünen als  Verhinderungspartei attackiert und immer neue Kniefälle vor heiligen Infrastrukturmaßnahmen einfordert. Musterbeispiel ist der designierte bayerische SPD-Spitzenkandidat Ude, der von den Grünen die Zustimmung zum Bau einer dritten Startbahn am Münchner Flughafen als Eintrittsbillet in eine Anti-CSU-Koalition einfordert.

 

Die Aufkündigung der schwarz-grün-gelben Jamaika-Koalition an der Saar war nicht nur für die (zur Alleinsschuldige erklärte) FDP ein einschneidendes Erlebnis, sondern hat auch die Grünen Koalitionsoptionen erst einmal wieder um Jahre zurückgedreht. Nach dem vorherigen Scheitern von schwarz-grün in Hamburg gibt es nunmehr auf Landesebene  kein Modell jenseits von rot-grün/grün-rot  mehr, dass für die Bundesebene als Vorbild taugte. So hilft es wenig, dass die Kanzlerin mit dem Atomausstieg ein entscheidendes Hemmnis für eine schwarz-grüne Annäherung aus dem Weg geräumt hat. Im bundesdeutschen Konsensdemokratiemodell hat nur der eine weitestgehende Chance zur Politikgestaltung, der auch im Bundesrat eine Mehrheit hinter sich bringt und diese wird immer noch über Landesregierungen vermittelt.

 

Für die Grünen stellt sich das zusätzliche Problem, dass die vehement eingeforderte und in Hamburg auch durchgesetzte Ausweitung plebiszitärer Elemente auf Landesebene bislang zumeist zu Mehrheitsmobilisierungen gegen  grüne Politikziele  führte. Die in einem Volksentscheid  gescheiterte Schulreform in Hamburg ist genauso wie der eindeutige Referendumserfolg der Stuttgarter Bahnhofsbefürworter ein hartes Stück Brot für die Durchsetzung grüner Politik in Reinkultur. Und so wie Winfried Kretschmann nun den Bahnhofsbau durchsetzen muss, werden die von den Grünen mitgetragenen Landesregierungen demnächst auch für die Suche nach einem atomaren Endlager in die Pflicht genommen.Für die Grünen ist dabei Maßgabe, dass die Endlagerfrage in dieser Generation entschieden werden soll, deer Atommüll nicht außer Landes exportiert wird, und das bundeswseit “sicherste Lager” in einem wissenschaftlich fundierten Vergleichsverfahren gefunden werden soll. Die ortsansässige  Bevölkerung soll dabei auch “mitgenommen” werden und dies könnte sich dabei am Ende als  schwierigste Aufgabe erweisen. Nachdem Gorleben allein aufgrund einer  politischen zweifelhaften  Entscheidung  und nicht in einem objektiven Auswahlverfahren nach der besten Eiignung bestimmt wurde, setzen sich die Grünen für einen Erkundungsstop in Gorleben als Voraussetzung für ihre Mitwirkung bei einem neuen Verfahren ein. Dies ist aktuell einer der Hauptkonflikte in der deutschen Atomausstiegspolitik.

 

Dass die Atompolitik allerdings jenseits der Endlagerfrage überhaupt noch als wichtiges Politikfeld wahlentscheidend sein könnte, darf bezweifelt werden. Viel wichtiger werden in der Energiepolitik die Auseinandersetzungen um den Bau von Windenergieanlagen (“Verspargelung”), Biogasanlagen (“Vermaisung”) oder der Ausbau der Fotovoltaik (Kosten) werden. Und hier wird den Grünen jenseits des jeweiligen konkreten Falls eine Gesamtverantwortung zugeschrieben, die nicht auf die leichte Schulter zu nehmen ist. Allerdings sind momentan andere Themen medienbeherrschend, bei denen man den  Bündnisgrünen in der Öffentlichkeit nur sehr beschränkte Lösungskompetenz zuschreibt. So steht die Verteidigung des Euros und die Fesselung der Kapitalmärkte auch bei den Grünen oben auf der Agenda. Dass die schon vor Monaten zuallererst von grünen Europapolitikern geforderte Einführung der Eurobonds die aktuelle Krise frühzeitig erstickt, zumindest aber abgemildert hätte steht für mich dabei außer Zweifel. So haben das Zögern und Sperren der bundesdeutschen Regierung  gegen schnelle und solidarische Lösungen einen wesentlichen Anteil am Beutemachen der Währungsspekulanten. Aus dieser mißlichen Situation gibt es jetzt keinen Königsweg mehr und trotz des anfänglichen Komplettversagens der deutschen Bundeskanzlerin schlägt sich ihr Auftreten auf EU-Ebene nunmehr in deutlichen Stimmengewinnen für die Union nieder. Lösungskompetenz haben und  Lösungskompetenz zugeschrieben zu bekommen sind nun einmal zweierlei. Es bleibt abzuwarten, wie sich angesichts der jetzt eintrübenden Konjunkturerwartungen das Wahlverhalten der Deutschen entwickelt. Eine halbwegs korrekte Einschätzung verlangt hellseherische Fähigkeiten über die der Verfasser (noch) nicht verfügt.

 

Die Zeichen stehen jedenfalls für die deutschen Bündnisgrünen gegenwärtig eher auf Konsolidierung als auf massiven Stimmenzuwachs und die inzwischen einzig übrig gebliebene und angestrebte grüne Machtoption  einer grünen Regierungsbeteiligung auf Bundesebene in einer SPD-geführten Bundesregierung ist angesichts der Fragmentierung des Parteiensystems und der Festigung der CDU schon längst kein Selbstläufer mehr.