Die Europa-Armee findet nicht statt. Zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts über den Lissabon-Vertrag   – 8. Juli 2009

 

Das Bundesverfassungsgericht hat gesprochen. Der politische Tenor seines einstimmig gefällten Urteils dürfte lange nachhallen.

Ob es der Schlusspunkt der europäischen Integration ist, wie sie viele bislang gesehen haben, wird sich noch zeigen müssen. Fest steht aber bereits jetzt, dass die Auswirkungen immens sind – auch auf die Entwicklung der „Gemeinsamen Außen- und Sicherheits-politik“ und deren sicherheits- und verteidigungspolitischen Teil. Was besagt das Urteil? Der Karlsruher Richterspruch stellt klar, dass sich Deutschland zwar dem Lissabonner Vertrag unterwerfen kann, es dadurch aber nicht den  souveränen Gestaltungsspielraum des Staates verlieren darf. Es gibt einen unveräußerlichen Kernbestand an Aufgaben und Strukturen, welche die Souveränität des Staates ausmachen. Dazu zählen etwa Religionsfragen,

Budgethoheit, Strafrecht, Polizei und Fragen von Krieg und Frieden. 

Wird damit die Vision eines europäischen  Bundesstaates aufgegeben? Die klassische Finalitätsfrage der Europäischen Union – soll die EU zu einem Bundesstaat (und damit auch zu einer Europa-Armee) führen und in die Vereinigten Staaten von Europa münden oder soll sie ein Gebilde  sui generis in Form einer Staatenverbindung bleiben – wird faktisch zu Gunsten des zweiten Modells entschieden. Das Urteil verbaut zwar die Möglichkeit eines Aufgehens deutscher Staatlichkeit in einer europäischen Föderation nicht gänzlich. Karlsruhe errichtet aber eine so hohe Hürde – eine neue Verfassung, die den Verzicht auf staatliche Souveränität ausdrücklich enthält und der das  deutsche Volk als eigentlicher Souverän

unmittelbar zustimmen muss –, die wohl auch in weniger europaskeptischen Zeiten unüberwindlich sein dürfte.

 

Was folgt daraus für das Projekt einer Europa-Armee? Jüngst ist in der CDU, der SPD und der FDP von der Notwendigkeit einer europäischen Armee gesprochen worden. So forderte Bundeskanzlerin Angela Merkel im März  2007 in der Bild-Zeitung. „Wir müssen einer gemeinsamen europäischen Armee näher kommen.“ Auch SPD und FDP befürworten dieses Ziel in ihren Wahlprogrammen für die Europawahl 2009. Die damit verbundene Vorstellung ist durchaus nachvollziehbar. Nach innen soll  Krieg zwischen den europäischen Staaten unmöglich gemacht werden. Bereits für Helmut Kohl war die europäische Integration eine Frage von Krieg und Frieden. Friedenserhalt war und ist der tiefere Sinn der immer engeren Verbindung der europäischen Völker. Stärker im Vordergrund steht heute, da die Vorstellung eines Waffenganges zwischen EU-Mitgliedern absurd erscheint, ein anderer Aspekt. Europa soll nach außen handlungsfähiger werden, sozusagen auf gleicher Augenhöhe mit den Welt-mächten global agieren können. Das können sich die EU-Mitglieder alleine nicht mehr leisten. Gerade in Zeiten der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise kommt es darauf an die

Kräfte zu bündeln. 

 

An beiden Zielen, so denn wirklich gewollt, müssen die politisch Verantwortlichen nun im Rahmen der Staatenverbindung EU weiter arbeiten. Brachliegende und unfertige Baustellen gibt es genug. Sie reichen von unzureichenden Fähigkeiten über einen fehlenden europäischen Rüstungsmarkt und einer nur rudimentären gemeinsamen Rüstungsexportpolitik bis zur man-gelnden Abstimmung bei der nationalen Verteidigungsplanung. Nationale Eifersüchteleien überwiegen. Im Zweifelsfall wird im Sinne des Erhalts nationaler Arbeitsplätze entschieden. Angesichts von Einsatzszenarios wie in Afghanistan steht zivil-militärische Zusammenarbeit ganz oben auf der Agenda. Doch ist sie über das Stadium politischer Rhetorik bislang nicht wirklich hinausgekommen.  

 

Der Vertrag von Lissabon beinhaltet gerade für den außen-, sicherheits- und verteidigungs-politischen Bereich wesentliche Neuerungen. Tritt er in Kraft, so wird das Amt des Hohen Beauftragten für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und des EU-Außenkom-missars zusammengelegt, seine Amtszeit auf zweieinhalb Jahre verlängert und mit mehr Kompetenzen ausgestattet. Zudem wird ein Europäischer Diplomatischer Dienst aufgebaut, dem Mitarbeiter des Ratssekretariats, der Europäischen Kommission und der Mitgliedstaaten angehören. Schließlich wird die EU künftig eine gemeinsame Verteidigungspolitik betreiben. Der Lissabon-Vertrag enthält eine Beistandsgarantie, die Verpflichtung zu verteidigungs- und rüstungspolitischem Engagement sowie die Möglichkeit der „permanenten strukturierten Zusammenarbeit“, d.h. ein Teil der Mitgliedstaaten darf bei der verteidigungspolitischen Zu-sammenarbeit schneller voranschreiten. 

 

All dies ist übrigens ohne direkte Kontrollrechte des Europäischen Parlaments möglich. Doch in bezug auf Auslandseinsätze der Bundeswehr hat das Bundesverfassungsgericht ja bereits 1994 entschieden, dass der Bundestag zuvor ein entsprechendes Mandat erteilen muss. Seitdem ist die Bundeswehr ein Parlamentsheer. Sie wird es auch in Zukunft bleiben. Die EU verfügt zwar zunehmend über Planungs- und Führungsstrukturen für ziviles und militärisches Krisenmanagement. Sie war bzw. ist seit 2003  in zwei Duzend Einsätzen weltweit aktiv, davon in sechs militärischen. Sie verfügt aber nicht über eigene Streitkräfte. Die zivilen und militärischen Fähigkeiten zur Krisenbearbeitung werden von den Mitgliedstaaten von Fall zu Fall zur Verfügung gestellt – oder auch nicht. 

 

Brüssel wird auch in Zukunft nicht über den Einsatz der Bundeswehr entscheiden können, weil aus der EU kein Bundesstaat werden wird. Die Kernkompetenz über Krieg und Frieden verbleibt beim Deutschen Bundestag. Eine  immer engere außen- und sicherheitspolitische Zusammenarbeit ist weiterhin möglich und angesichts der Herausforderungen in einer globalisierten Welt wünschenswert. Die Vision einer Armee der Vereinigten Staaten von Europa ist mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts allerdings verblichen.

 

von Hans-Georg Ehrhart, ehrhart@ifsh.de