EU-Richtlinie beflügelte Kerrys Nahost-Bemühungen

 

Phil Hill, Berlin, 22.7.2013

 

 

Sollte es, wie inzwischen erwartet, in den nächsten Wochen zur Wiederaufnahme der Friedensverhandlungen zwischen Israel und den Palästinensern kommen, so können wir nicht nur US-Außenminister John Kerry, sondern auch der EU-Kommission dafür danken. Denn eine neue EU-Richtlinie hat einerseits den Druck auf die Netanjahu-Regierung erhöht und andererseits geholfen, die Vorbehalte der Palästinenser abzubauen.

Anfang der Woche wurde bekannt, dass die EU-Kommission eine Richtlinie zur Präzisierung der europäischen Politik zur Kooperation mit Israel im Hinblick auf die illegalen Siedlungen im Westjordanland vorbereitet hatte. Hier ging es gerade nicht um die so genannten „Siedlerprodukte“ – von Avocados und Erdbeeren über Kosmetika bis hin zu jenen Küchengeräten, die aus Leitungs- Sprudelwasser machen –, die mit einem „Made in Israel“-Stempel weltweit vermarktet werden, obwohl sie aus Siedlungen auf palästinensischem Gebiet stammen. In vielen Ländern laufen seit mehr als einem Jahr Kampagnen, solche Produkte anders zu kennzeichnen, auch die EU wollte das jüngst so handhaben, ließ sich aber zunächst von den USA überreden, diese Maßnahmen erst einmal zurückzustellen. Groß war die Genugtuung unter Israels Rechter, für die die Siedlungen Teil Israels sind und jeder Angriff auf sie ein Angriff auf das Land selbst. Das war im Mai.

Die aktuelle Richtlinie ist aber keine Verordnung zur Etikettierung von Hautcreme, sie geht viel weiter. Sie setzt einen Beschluss des EU-Rates für Auswärtige Angelegenheiten vom Dezember letzten Jahres um, wonach „in allen Abkommen zwischen … Israel und der EU … erklärt wird, dass sie nicht für die von Israel 1967 besetzten Gebiete … gelten[PH1] .” Diesmal war die Reaktion aus Washington lediglich die lakonische Feststellung, man betrachte die Siedlungen im Westjordanland ja ebenfalls als illegal[PH2] .

Die Richtlinie könnte für Israel teuer werden: Schon im nächsten Monat stehen etwa Verhandlungen über das Projekt „Horizon 2020“ an, ein Programm zur wissenschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Israel und der EU, wobei israelischen IT-Firmen Investitionen in dreistelliger Millionenhöhe winken. Bislang hat man bei solchen Verträgen zwar von EU-Seite betont, die Siedlungen seien vom Vertrag ausgenommen, doch man wusste, dass Israel dieses ignorieren würde – und dass man dann selbst nichts tun würde, um es dazu zu zwingen.

Nun ist das anders, ab 2014 müsste sich Israel selbst vertraglich verpflichten, diese der eigenen Politik zuwiderlaufende Regelung einzuhalten. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu erklärte umgehend, Israel werde „keine externen Diktate bezüglich unserer Grenzen akzeptieren“ – ganz so, als könne ein Land seine Grenzen nach Belieben selbst ziehen –, andere hochrangige Staatsvertreter betonten, das Land könne unmöglich Verträge mit der geforderten Klausel unterschreiben[PH3] . Auch der greise, gemäßigte Staatspräsident Schimon Peres appellierte an die Europäer, die Verkündung der Richtlinie mindestens auszusetzen. Doch die Karawane der Euro-Bürokratie nahm dieses Bellen gar nicht zur Kenntnis. Am 19. Juli wurde die Richtlinie verkündet – auf Dauer. Bevor eine EU-Richtlinie gestrichen wird, fließt der Rhein zurück in die Schweiz.

Die Nachricht aus Brüssel platzte direkt in die heikle Schlussphase der Bemühungen Kerrys, die seit Jahren ausgesetzten Verhandlungen um eine Lösung des Nahostkonflikts wieder anzurollen, eine Aufgabe, die er mit einem seit lange vermissten Nachdruck verfolgt. Auch deswegen explodierte in Israel die Empörung über die angebliche „einseitige Parteinahme“ der EU für die Palästinenser, die nur dazu führen würde, dass diese „Verweigerer“ erst recht zu keinen Verhandlungen bereit sein würden, da sie ja eh alles von der EU geschenkt bekämen. Die US-jüdische Organisation B’nai B’rith sah die Maßnahme als „Ausdruck der langjährigen Besessenheit“ der EU mit Israel[PH4] , Dr. Moshe Kantor, Vorsitzender des Europäischen Jüdischen Kongress (EJC) bescheinigte den Europäern „extremen Realitätsverlust“ und Dieter Graumann[PH5]  vom Zentralrat der Juden in Deutschland stellte fest, die EU kümmere sich um gar keine anderen weltweiten Probleme, sondern immer nur darum, wie Israel an den Pranger gestellt werden könne. Und natürlich durfte auch die „besondere deutsche Verantwortung“ nicht fehlen: Danny Ayalon, der israelische Staatssekretär, der den Sturzflug der israelisch-türkischen Beziehungen mitverursacht hatte, ließ einen „offenen Brief“ in der Jerusalem Post publizieren, der Angela Merkel persönlich bat, „rechtzeitig zu intervenieren, um diese schädliche Brüsseler Entwicklung zu stoppen[PH6] “. Die Antwort könnte auf sich warten lassen, denn erstens verabschiedete sich die Kanzlerin zur gleichen Stunde in den Urlaub, außerdem ist ihr Leitmotto für fast alle Probleme, also auch hier, „so schnell schießen die Preußen nicht“. Trotzdem hat sich „Deutschland“ von der Richtlinie angeblich „distanziert“ – in der Person des CDU-Rechtsaußen Phillip Mißfelder[PH7] , der gleich den Grünen die Schuld für diese Schandtat zuwies. Diese hatten allerdings genauso wenig damit zu tun gehabt, wie sonst irgendjemand in Berlin, zumal die meisten, ähnlich wie die Kanzlerin ganz woanders als an der Spree weilten.

Hierbei handelt es sich allerdings noch um die gemäßigteren Reaktionen aus dem israeltreuen Lager. Da in diese Woche das jüdische Fest Tischa beAw fiel, eine Gedenkfeier für die Zerstörung des antiken Tempels und andere Katastrophen der jüdischen Geschichte, ließen einige Leitartikler es sich nicht nehmen, die EU in die Liste der historischen Tempelzerstörer und Judenschlächter der Geschichte aufzunehmen[PH8] . Mit Schaum vor dem Mund wüteten Blogger über die Europäer[PH9] , die dabei seien, den Holocaust zu Ende zu bringen. Feuilleton-Ideologen, die erst kürzlich ihren ganzen Hass über Kerry wegen seiner Friedensbemühungen[PH10]  ausgeschüttet hatten, hatten plötzlich ein neues Feindbild. Den Vogel schoss wohl Israel Harel, Leitartikler für die eigentlich eher linksliberale Haaretz, ab, der von Sanktionen sprach die  „den Ausschlag zu Gunsten der Palästinenser verschieben sollen. Doch Israel kann die Situation umkehren, und im wirtschaftlichen sowie im territorialen Bereich unendlich viel mehr Schaden anrichten, als die Europäer für die Israelis verursachen können[PH11] .“ Richtig hat er die Lage der Palästinenser beschrieben: Sie sind, in hilfloser Geiselhaft, der israelischen Gewalt ausgeliefert. Gerade deswegen benötigen sie ausländische Fürsprecher. Begrüßt haben die Maßnahme allerdings einige linksliberale Kommentatoren im Haaretz, etwa der Schweizer-Israeli Carlo Strenger, der sich über die jungen rechten israelischen Politiker mokierte, die von der Maßnahme kalt erwischt worden waren[PH12] .

Eine 2-Staaten-Lösung auf Basis der Grenze  von 1967 ist für die Palästinenser unabdingbar, daher haben sie während der Woche einen Verhandlungsvorschlag Kerrys zurückgewiesen, der dieses nicht eindeutig als Ausgangspunkt für die Verhandlungen bezeichnete, außerdem verlangten sie einen kompletten Baustopp in den Siedlungen. Beide Forderungen sind für Israel völlig inakzeptabel, auch wenn, wohl als Geste, die Baugenehmigungen in den letzten Wochen weniger großzügig erteilt wurden.

Doch schon am anderen Tag konnte Kerry die provisorische Einwilligung beider Seiten zur Wiederaufnahme der Verhandlungen verkünden – ohne dass sich zu diesen Fragen irgendjemand bewegt hätte. Die Palästinenser willigten ein, weil er versprach, die Position der USA zu den Siedlungen deutlich in den Verhandlungsdokumenten zu formulieren. Im Gegenzug erhielt Israel ein ähnliches Versprechen mit Bezug auf seinen Status als „jüdischer Staat[PH13] “. In beiden Fällen ist diese US-amerikanische Position von der jeweiligen Gegenseite nicht akzeptiert, wohl aber zur Kenntnis genommen worden; letztlich wollte wohl auch keine der beiden Seiten diejenige sein, an der der amerikanische Vorstoß  gescheitert wäre. Auch die EU hatte neben der Richtlinien-Peitsche ein Zuckerbrot für Israel bereit: Die von israelischer Seite lange geforderte Aufnahme der libanesischen Hisbollah in die Liste von „Terrorgruppen“ erfolgte nur 3 Tage später – lag sie wegen der israelischen Verhandlungsweigerung auf Eis? In trockenen Tüchern ist das Ganze aber erst, wenn in dieser Woche abschließende Gespräche in Washington stattfinden. Bei erfolgreichem Verlauf könnte viel Geld fließen – neben Dollar auch Euro.

Das „Ja“ der Palästinenser ist wohl auch der kumulativen Wirkung dieser Stellungnahmen durch die USA einerseits und- über die neue Richtlinie- der EU andererseits zu verdanken. Daher mussten die Israelis, die noch Anfang der Woche vorhersagten, die EU-Position würde die Palästinenser vom Verhandlungstisch fernhalten, Ende der Woche genau die gegenteilige Wirkung feststellen: so sieht es etwa die israelische Kommentatorin Amira Hass[PH14] . Allerdings dürften sie mit einem gestärkten Selbstbewusstsein ankommen, das den rechten Israelis nicht unbedingt gefallen würde.

Außerdem hat Kerry die Einladung an Ramallah mit dem erzwungenen Versprechen Israels versüßt, eine Reihe von palästinensischen Gefangenen frei zu lassen: 81 werden es wohl sofort sein, bis zu 350 sollen es nach und nach im Rahmen der Verhandlungen werden – eine unter den einfachen Leuten besonders gewünschte Maßnahme, die den Verweigerern von Verhandlungen den Wind aus den Segeln nehmen könnte. Darunter sind nicht nur extremlinke bzw. islamistische Gruppierungen – allen voran die Hamas und die PFLP –[PH15]  sondern auch etwa die Palästinensische Initiative des Omar Barghouti, der jede Gewalt ablehnt. Barghouti war sich sicher, dass etwaige Verhandlungen an den israelischen Hardlinern scheitern würden[PH16] , womit er mit ebendiesen in seltener Eintracht steht. Zum Beispiel meinte der diensttuende Außenminister Sejew Elkin (der eigentliche, Awigdor Liebermann, ist beurlaubt, bis der Staatsanwalt mit ihm fertig ist), der offen einen Palästinenserstaat ablehnt, er könne mit Verhandlungen leben, die ohnehin nichts fruchten würden[PH17] .

Denn Netanjahu mag zwar von Obama und Kerry weichgeklopft worden sein, seine Partei, die Likud, ist aber nach wie vor gegen jeden Palästinenserstaat. Der Wirtschaftsminister Naftali Bennett, Chef der rechtsextremen „Jüdische Heimat“,  verkündete, er würde in keiner Regierung bleiben, die auf Basis der Grenzen von 1967 verhandelt[PH18] . Er verlieh der Drohung Nachdruck, indem er der für die auch von Netanjahu favorisierte Volksabstimmung zur Zustimmung zu einem verhandelten  Friedensvertrag den Verfassungsrang forderte, was die liberalen Koalitionsmitglieder, v.a. alt-Ministerpräsidentin Zipi Liwni, die die Verhandlungen führen würde, ablehnen[PH19] . Ohne die Stimmen der Rechten müsste Netanjahu entweder auf die – genüsslich in Aussicht gestellte – Hilfe der linken Opposition unter Führung der Sozialdemokratin Shelley Jachimowitsch weitermachen[PH20] , oder aber Neuwahlen ausrufen; das wäre wohl das Ende seiner Karriere.

Die Alternative der Rechten formuliert Bennett am Deutlichsten, dessen Wähler v.a. unter der halben Million Siedler zu suchen sind, die bei jeder denkbaren Friedenslösung zu einem großen Teil umziehen müssten: Er will gar nicht verhandeln, sondern das Westjordanland annektieren und den Palästinensern den Dauerstatus eines Kolonialvolkes in „selbstverwalteten“ Minikantonen zuweisen. Die Weltgemeinschaft, sagt er selbstbewusst voraus, würde erst mal einen Aufschrei veranstalten und dann nichts tun, die geschaffenen Fakten also letztlich akzeptieren[PH21] .

Verständlich ist seine Zuversicht schon, denn Israel ist es in der Tat gewohnt, dass man ihre Siedlungspolitik zwar mit Worten anprangert, diesen aber keine Taten folgen lässt; daher auch die aktuelle Empörung über die untypisch konsequente Position. Für die meisten Israelis – abgesehen von denen, die, wie Bennett, das ganze Westjordanland behalten wollen – handelt es sich um „strittige“ Gebiete, die zwischen den beiden Streitparteien durch Verhandlungen aufzuteilen wären. Für die Weltgemeinschaft aber handelt es sich um palästinensisches Gebiet, wobei es nur darum geht, welche kleinen Teile davon gegen andere, israelische, Gebiete zu tauschen wären.

Wenn die in dieser Woche von den USA und der EU unabhängig voneinander lancierten Vorstöße Israel endlich auf den Boden der weltweit anerkannten Tatsachen drängen können, wird der Gewinn für eine Friedenslösung erheblich sein. Dann könnte diese Maßnahme als großer Fortschritt in die Geschichte der europäischen Einigung eingehen: Zum ersten Mal hätte Europa eine völlig eigenständige weltpolitische Maßnahme getroffen – und das mit Erfolg.

 


 [PH1]EU-Rat, PM: „3209. Tagung des Rates Auswärtige Angelegenheiten“, Brüssel, den 10. Dezember 2012

 [PH2]Jerusalem Post  Michael Wilner 7 Juli

US declines to issue rebuke of EU settlement regulations

 [PH3]Barak Ravid  JP 19 Jul.

Israel warns EU ambassadors of serious crisis over new settlement guidelines

 [PH4]a.a.O., Ravid

 [PH5]im Deutschlandfunk-Interview, 18. Juli

http://www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/2181914/

 [PH6]JP 19. Juli Danny Ayalon

An open letter to Her Excellency Angela Merkel

 [PH7]haOlam (Online-Magazin)

EU-Förderleitlinien zu Israel leisten keinen Beitrag zur Lösung des Nahost-Konflikts

http://haolam.de/artikel_14118.html

 [PH8]JP Liat Collins 18. Juli

My word: Red lines and the Green Line

 [PH9]V.a. die Reaktionen i.d. JP haben diesen Charakter, s. jeden Artikel zu diesem Thema in der JP in dieser (oder jeder anderen) Woche.

 [PH10]Ironisch von ?? i.d. Haaretz gegeißelt

 [PH11]Haaretz, 19. Juli, Israel Harel

Attack is the best defense against the EU

 [PH12]17. Juli:

Lessons from the EU guidelines: Israel’s right-wingers suffer from learning difficulties

 [PH13]Haaretz, Barak Ravid,, Jul. 19,

Kerry: Direct Israeli-Palestinian peace talks to resume next week in Washington

 [PH14]Haaretz, 21. Juli, New EU guidelines on Israeli settlements enabled Abbas to say 'yes' to Kerry

 [PH15]JP 20. Juli KHALED ABU TOAMEH

Palestinian factions see resumption of peace talks as 'political suicide'

 [PH16]ebenda

 [PH17]Haaretz, Jonathan Lis, Jul. 22,

As peace negotiations get closer, Netanyahu’s coalition gets fractious

 

 [PH18]JP, 17. Juli Tovah Lazaroff

Bennett: The answer to the EU is building in Judea and Samaria

 [PH19]JP 22. Juli, Lahav Harkov

Bayit Yehudi issues ultimatum: Referendum on peace or no budget

 [PH20]Haaretz, Jonathan Lis, Jul. 18,

Bennett threatens to leave Netanyahu government over peace talks on '67 lines

 [PH21]Bennett, The Israeli Stability Initiative